Frankreichs Rußlandbild hat sich gewandelt

Der populäre Antikommunismus hat einer neuen Einschätzung Gorbatschows Platz gemacht / Mitterrands Moskau-Besuch soll dazu beitragen, die französische Ostpolitik neu auszurichten / Die französische Wirtschaft will verlorenes Terrain im Osthandel wiedergewinnen  ■  Aus Paris Georg Blume

Mitterrand in Moskau: Das ist keine Selbstverständlichkeit. Vier Jahre ist es bereits her, daß sich der französische Staatspräsident zum ersten und bis heute einzigen Mal im Kreml zeigte. Nun aber prophezeit das sowjetische Außenministerium eine „Wiederbelebung des bilateralen Verhältnisses nach einer langen Zeit der Stagnation“. Frankreich will heute dieser Prophezeiung Glauben schenken.

Die Pariser Abendzeitung 'Le Monde‘ freut sich über die „neue Idylle“ in den französisch-sowjetischen Beziehungen. Die links-liberale 'Liberation‘ titelt mit dem Mitterrand -Ausspruch: „Ich mag die Perestroika lieber als das erstarrte Regime, das wir bis vor kurzem kannten.“

Dem bundesdeutschen Gorbi-Fan mögen diese Worte selbstverständlich erscheinen. Aus Pariser Sicht aber entsteht der Eindruck, der französischen Presse sei der russische Himmel auf den Kopf gefallen.

Pünktlich zum Mitterrand-Besuch bei Gorbatschow am heutigen Tage haben die Pariser Meinungsmacher ihre eigene Perestroika eingeläutet. „Wir kehren mit guten Nachrichten für die Sowjetbürger zurück“, hatte Edward Schewardnadse zum Ende seines vielbeachteten Paris-Aufenthalts im Oktober als erster den neuen Pariser Zeitgeist beschworen. „Wir werden ihnen erzählen, mit welcher Sympathie die Franzosen von unserer Perestroika sprechen.“

Schon ein kurzer Blick zurück läßt ahnen, wie schnell Paris umgedacht hat. Kaum ein Jahr ist es her, da wählte das französische Nachrichtenmagazin 'Le Point‘ Michail Gorbatschow zum Mann des Jahres 1987 - mit folgender Begründung: „Wir haben Gorbatschow gewählt, weil er im Jahr 1987 außergewöhnliche Fähigkeiten entwickelte, die Widersprüche und Schwächen der westlichen Demokratien auszunutzen; weil er die unveränderten Absichten des Kommunismus in seiner Form erneuern konnte.“ Das Blatt hatte damit einen bis dahin kaum bestrittenen nationalen Konsens formuliert: die französische Medienöffentlichkeit verweigerte Gorbatschow das Vertrauen.

Sieben Jahre lang hinderte der populäre Antikommunismus in Frankreich Fran?ois Mitterrand an der Definition einer französischen Ostpolitik. Erst in diesem Jahr machte sich der Stimmungswechsel gegenüber Moskau bemerkbar. Seit der Rehabilitierung Sacharows und dem Beginn des sowjetischen Truppenrückzuges aus Afghanistan sind in der Tat die Stimmen seltener geworden, die die Sowjetunion als Heimatland des Gulag, als Land der Konzentrationslager und Zwangsanstalten beschreiben.

Der beliebte Filmstar Yves Montand, der vor noch nicht langer Zeit im Fernsehen aufsehenerregend die rote Invasionsgefahr beschwor, schweigt heute zu Gorbatschow. Zwar sieht der unermüdliche Gulag-Prediger Andre Glucksmann in Gorbatschow weiterhin schlichtweg einen „Phantasten“, der den Westeuropäern den Kopf verdreht. Doch verstärkt sich der Eindruck, daß er mehr und mehr allein steht. Währenddessen hat sich auch das Verhältnis der Sozialisten zu den Kommunisten im eigenen Land normalisiert: Mit einem bisher unbekannten Pragmatismus gestalten die beiden verfeindeten Linksparteien ihre Zusammenarbeit im neugewählten Parlament.

„Die Außenpolitik ist oft genug eine Verlängerung der Innenpolitik“, bemerkte Edward Schewardnadse im Rückblick auf die Beziehungen beider Länder. Der innenpolitische Klimawechsel in Frankreich erlaubt Fran?ois Mitterrand heute eine Neuausrichtung französischer Ostpolitik.

Nicht weniger als sieben Minister und eine hochkarätige Wirtschaftsdelegation begleiten ihn in die Sowjetunion. Nicht ohne Grund. Frankreich hat im Vergleich zu anderen westeuropäischen Ländern, insbesondere zur Bundesrepublik, einen mehrjährigen Rückstand wettzumachen. „Die Bestandsaufnahme zeigt, daß wir dort, wo wir wichtige Interessen hatten, von anderen ausgestochen wurden“, analysierte der französische Außenminister Roland Dumas während seiner Prag-Visite im September die französische Ausgangsposition. „Andere haben das Gebiet besetzt, und uns bleiben nur die historischen Andenken.“

Das gilt für den gesamten Ostblock. Der französische Osthandel, sogar der Kulturaustausch mit Osteuropa ist unterentwickelt. Kurz vor der Abreise nach Moskau sprach Roland Dumas, der zu den engsten Vertrauten Mitterrands zählt, den Franzosen noch einmal ins Gewissen: „Das Urteil der anderen westeuropäischen Länder über die Entwicklung in der Sowjetunion ist positiv. Entweder wir glauben ebenfalls an diese Entwicklung, oder wir glauben nicht an sie und bleiben in unserer Ecke hocken.“

Frankreich habe die Aufgabe, „die Anziehungskraft, die Osteuropa auf die Bundesrepublik ausübt, auszugleichen“, formulierte der heutige französische Verteidigungsminister Jean-Pierre Chevenement im September vergangenen Jahres. Aus dieser Sicht kommt dem Kreml-Besuch Mitterrands, nur wenige Wochen nach Helmut Kohl, noch eine weitere Bedeutung zu.

Mit seiner UNO-Initiative für das Verbot der Herstellung chemischer Waffen wie auch mit seinem Einsatz für die Abhaltung der KSZE-Folgekonferenz über Menschenrechte 1991 in Moskau hat Mitterrand seinem sowjetischen Gegenüber zu verstehen gegeben, daß Frankreich von seiner bisherigen Außenseiterrolle im Abrüstungsprozeß abrückt und sich dem Kreml als neuer, konstruktiver Gesprächspartner im Westen anbieten will. Mitterrand versucht damit, einen politischen Spielraum zurückzugewinnen, den Frankreich unter De Gaulle traditionell innehatte, heute jedoch an die neue und flexible bundesdeutsche Außenpolitik zu verlieren droht.