: Grüne Heißluft strömt nach Europa
Der heimatlose Roma Rudolf Kawczynski ist Europa-Spitzenkandidat der Grünen / Strömungsübergreifend durchwachsene Liste / Grünes Lexikon als Wahlprogramm / Durchmarsch der Realos auf der Kandidatenliste fand nicht statt / Streit um Präambel ■ Aus Karlsruhe Thomas Scheuer
„Wir sitzen im Europäischen Parlament zwar ganz hinten in der letzten Reihe; aber so spüren die anderen immer unseren heißen Atem im Nacken.“ So charakterisierte ein Mitarbeiter der grünen Europa-Gruppe vor einiger Zeit deren Lage in der Straßburger Versammlung. Viel heiße Luft ist auch künftig zu erwarten: Weder Wahlprogramm noch Kandidatenliste für die Europa-Wahlen im Juni 1989, soeben frisch verabschiedet auf dem Karlsruher Parteitag, geben eine eindeutige Antwort auf die Frage: Wie halten 's die Grünen denn nun mit der EG.
Die Karlsruher Europa-Debatte prägte ein Wackelkurs zwischen genereller Ablehnung der EG-Institutionen, inklusive des Europäischen Parlamentes und einer Position, die neben harter Kritik am Wachstumsfetischismus des angestrebten EG-Binnenmarktes doch auch punktuelle Reformierung der EG fordert. Das eigentliche Wahlprogramm ist eine Enzyklopädie grüner Positionen so umfangreich, daß die Delegiertenmehrheit eine Überarbeitung und die Herausgabe in Form einzelner Faltblätter zu Fachthemen verlangte. Eine Kernforderung des Programmes unter dem Motto „Für eine ökologische, soziale und basisdemokratische Politik in Europa“ ist die sofortige Stillegung aller europäischen Atomanlagen.
Ein alternativer Programmentwurf aus Baden-Württemberg, der sich konkret mit den Auswirkungen des Binnenmarktes auseinandersetzt, wurde von Fundis als zu reaktiv und anpasserisch kritisiert. Anstatt ihn alternativ abzustimmen, adaptierte der Parteitag ihn einfach als „Politische Erklärung zum Binnenmarkt“ an das Hauptprogramm. Die Entscheidung zwischen einer radikaleren und einer pragmatischen Präambel, fiel zugunsten der reformerischen Fassung aus, die aber durch ein fundamentalistisch tönendes Schlußwort relativiert wird. Aus diesem Programm-Paket können sich die Abgeordneten in spe nun jeweils das rauspicken, was ihnen in den Kram paßt.
Der grüne Strömungsstrudel dieses Parteitages hat europapolitisch wenig klare Konturen hinterlassen. Bei der Besetzung der Kandidatenliste war jedenfalls von einem „Durchmarsch der Realos“, den einige nach der spektakulären Abwahl des Bundesvorstandes befürchtet hatten, wenig zu spüren. Zwar hatte Fundi-Sprecher Christian Schmidt noch am Samstag morgen trotzig getönt, „die Linken“ stünden für die Europa-Debatte nicht zur Verfügung. Doch dann wurde doch heftig mitgemischt. So rangiert auf Platz zwei die Ökosozialistin Dorothee Piermont, die sich in Straßburg bereits zweieinhalb Jahre lang als - später rotierte Europa-Abgeordnete mit den Schwerpunkten Abrüstung und Friedenspolitik profilierte. Noch am Freitag hatte sie verkündet, nicht noch einmal kandidieren zu wollen. Auch der sich selbst als undogmatischer Linker einordnende Frieder 0.Wolf, der die Reform-Präambel zunächst heftig kritisiert hatte, nach Verabschiedung diese aber als „Arbeitsgrundlage“ identifizierte, hofft auf einen aussichtsreichen Platz, wenn die Liste auf dem nächsten Parteitag komplettiert wird. Aus Zeitgründen konnten in Karlsruhe nur die ersten fünf Plätze definitiv besetzt werden.
Der bereits euro-bewährte, eher pragmatische Agrar-Experte Friedrich Wilhelm Gräfe zu Baringdorf, beim letzten Mal Spitzenkandidat, erhielt Platz drei; der passionierte Alpenschützer Karl Partsch Platz fünf. Zwischen ihnen (Platz vier) sitzt Claudia Roth, derzeit noch Sprecherin der Bundestagsfraktion. Spitzenkandidat der Grünen ist ein Mann, der vermutlich nie im Europa-Parlament Platz nehmen können wird: Der in Hamburg lebende heimatlose Roma Rudolf Kawczynski. Da der in Polen geborene 34jährige nicht die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, wird seine Kandidatur mit großer Sicherheit wegen wahlrechtlicher Fisimatenten amtlich nicht anerkannt werden. Mit ihrem „symbolischen Spitzenkandidaten“ wollen die Grünen auf die andauernde Diskriminierung der 15.000 in Europa lebenden Sinti und Roma aufmerksam machen. In der EG, die ja den Wegfall nationaler Grenzen auf ihre Fahne geschrieben habe, sei das Beharren auf einer Staatsangehörigkeit als Bedingung für eine Parlamentskandidatur besonders pervers, hieß es; gerade der heimatlose Roma Kawczynski sei der geborene Europäer.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen