Vom Nachttisch geräumt: ZUEGE

Katharina die Große wollte Rußland zivilisieren. Die natürlichen Reichtümer sollten gehoben, die leeren Flächen kultiviert und die weiten Steppen bevölkert werden. 1763 veröffentlichte sie einen Aufruf, der in ganz Europa als Flugblatt verbreitet wurde. Sie bot darin Kolonisten freie Fahrt nach Rußland und die ersten Jahre über finanzielle Unterstützung an. Vor allem aus Deutschland kamen Tausende. Viele von ihnen wurden in der Gegend um Saratow an der Wolga angesiedelt. Christian Gottlob Züge war einer von ihnen. Er lebte zehn Jahre in Rußland, dann gelang ihm die Flucht und er ging wieder zurück nach Gera. 1802 veröffentlichte er die Erinnerungen an seine Zeit als Untertan Katharinas der Großen (1764-1774). Es sind die Aufzeichnungen eines durch Schaden klug gewordenen Beobachters, eines Mannes, der aufklärerisch Vorurteile beheben möchte und mit distanzierter Sympathie über den Achtzehnjährigen schreibt, der er damals war. Der junge Mann war von zuhause weggegangen, weil man ihm seine Liebschaft mit einer Nachbarstochter verwehrte. Unterwegs traf er Gesellen und Landstreicher. Mit zweien schloß er sich zusammen, und in Lübeck angekommen kamen die Männer überein, nach Amerika auszuwandern. Als sie ihren Entschluß in einer Gastwirtschaft feierten, kamen russische Werber vom Nebentisch und erklärten: „Geht mit uns jetzt nach Rußland, dort hat jetzt die große Catharina, selbst eine Deutsche, allen ihren Landsleuten, welchen es daheim nicht gefällt, ein neues Paradies eröffnet. Unter dem mildesten Himmelsstriche ihres weitläufigen Reiches will sie Colonien von Deutschen anlegen, welchen sie nicht nur Reisegeld, sondern auch etliche Jahre lang so viel giebt, als zum Unterhalte nöthig ist, auch jedem eine Summe von 150 Rubeln auszahlen läßt, um sich damit nach seinem Gefallen zu etablieren.“ Die drei Männer revidierten ihren Beschluß und zogen statt ins gelobte Land der Pilgrimväter ins spätere Reich des Bösen. Züge beschreibt angewidert die unflätige Gesellschaft, in die er geraten war. In Rußland angekommen, nehmen die Zweifel am Sinn des Unternehmens sehr rasch überhand. Schon bevor er sein Ziel erreicht hat, entdeckt er, daß das Projekt nicht nur für ihn eine Verschlechterung darstellt. „Die einfachen Bewohner Panschynas - dort machte der Treck Winterquartier - hatten von unserem Aufenthalt gewiß keinen Vorteil. Möglich, daß sie dadurch mit einigen Kenntnissen bereichert, über etliche Begriffe besser aufgeklärt wurden, doch dieser Gewinn für Menschen, die noch nicht weit von der Natur abgewichen waren, ist nicht in Vergleich zu stellen mit dem gewiß größern Nachtheile. Ohne Zweifel wurde durch unsern Aufenthalt in Panschyna der häusliche Friede von mehr als einer harmlosen Familie gestört; rohe, aber unverdorbene Menschen lernten neue Laster kennen, und, wovon ich jedoch keine bestimmte Erfahrung gemacht habe, vielliecht auch neue Krankheiten.“ Und jetzt kommt ein Satz, den man bei so viel weit klügeren Zeitgenossen Christian Gottlob Züges vergeblich suchen wird: „Es ist niederdrückend für das Gefühl eines jeden bessern Europäers, daß durch seine Landsleute in alle Weltgegenden hin eine Menge von Übeln gebracht werden.“ Am Bestimmunsort angekommen, mußten die Neusiedler entdecken, daß die versprochenen Häuser nicht gebaut waren. Sie ließen sich, kurz bevor der Winter einbrach, von in den Nähe lebenden Bauern „Erdwohnungen“ bauen, die man, war erst einmal alles richtig verschneit, nur noch durch den Kamin verlassen konnte. Züge gelingt es, sich in die nächste Stadt - Saratow - abzusetzen und findet dort Arbeit in einer kleinen Tuchfabrik. Das ist die Perspektive seines Berichtes. Eine Fundgrube für kulturhistorisch Interessierte. Keine Adelsnester, keine Gardeoffiziere, sondern das Volk und die Knute der Herrschenden. Seine Beschreibung der verschiedenen Formen der Prügelstrafe füllt Seiten. Der Blick fürs Detail, für die Perfidie einer Grausamkeit, die den Gefolterten zwingt, Spiritus einzuatmen, sodaß er bei Bewußtsein bleibt und jeden Schlag spürt, macht Züges Buch zu einer aufschlußreichen und aufrüttelnden Lektüre. Der Herausgeber Gert Robel hat in knappen, aber in jedem Notfall vorhandenen Fußnoten - ja, unten auf der Seite und nicht hinten, wo man doch nie nachschlägt - den Text aufgeschlossen und in einem knappen Nachwort wichtige Daten und Überlegungen zur Geschichte der wolgadeutschen Kolonisation berichtet. Zwischen 1763 und 1775 sollen 28.000 Einwanderer dem Aufruf der Zarin gefolgt sein. 23.000 davon siedelten sich um Saratow an. Über den uns so interessant gewordenen Autor aber war, wohl auch da die Behörden der DDR jede Hilfe verweigerten, nichts Näheres in Erfahrung zu bringen. „Anfragen an das Stadtarchiv Gera blieben ebenso unbeantwortet wie die bei Übersendung einer kleinen Skizze über Züges Werk nochmals vorgebrachte höfliche Bitte um Auskunft.“

Der russische Colonist oder Christian Gottlob Züges Leben in Rußland, Edition Temmen, 287 Seiten, 14 Abbildungen und eine beigelegte Karte, 39,80 DM