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„Ökologische Katastrophe in kleinem Maßstab“

In Schweden werden auch zweieinhalb Jahre nach der Atomkatastrophe von Tschnernobyl dramatische Cäsiumwerte gemessen Forschungen in Nordschweden beweisen Mutationen bei 30 Prozent der Taufliegen / Forscher geben sich unbesorgt  ■  Aus Stockholm G. Pettersson

Tschnernobyl und kein Ende - zweieinhalb Jahre nach der Atomkatastrophe tickt es mehr als je zuvor, vor allem in Nord- und Mittelschweden. Manch einem ist deshalb der traditionelle Weihnachtsbraten - Elch oder Ren - vergällt. Elchjagden werden abgeblasen, weil das Elchfleisch mehr als doppelt so hohe Cäsiumwerte wie 1986 anzeigt. Einer den Lappen gehörenden Rentierschlachterei droht der Konkurs, da von den pro Jahr rund 100.000 „verwursteten“ Rentieren 30.000 wegen überhöhter Cäsiumwerte nicht verwertet werden können.

Doch nicht nur bei Fleisch, Fisch, Pilzen oder Beeren stabilisieren sich die radioaktiven Werte auf höchstem Niveau. Auch die Menschen scheinen in einem höheren Grad gefährdet als kurz nach der Katastrophe. Rabenschwarz sieht es dabei für das Gebiet um Gävle im Norden Schwedens aus. Hier in diesem Landstrich, wo Beeren- und Pilzesammeln in den tiefen Wäldern und das Fischen in den grün-blauen Seen zu einer Art Schwedisch-Roulette wurden, betreibt der Genetik-Professor Anssi Saura seine Experimente mit Taufliegen.

Der 45jährige Finne mit Lehrauftrag an der schwedischen Universität Umea hat deshalb zu den kleinen, schwarzen, wilden Taufliegen - einer schwedischen Abart der Fruchtfliege - ein inniges Verhältnis, weil sich Mutationen durch sie besonders gut nachweisen lassen. In einem Gespräch mit der taz in Stockholm berichtet Anssi Saura über die bisherigen Ergebnisse seiner wahrscheinlich Mitte '89 abgeschlossenen Forschung. Es wurden „sehr hohe Werte der genetischen Bürde“ gefunden, nämlich „konstante Werte über 30 Prozent“. Das bedeutet: 30 Prozent der Chromosome enthalten tödlich geschädigte Gene. Fast jede dritte Taufliege ist neuerdings aufgrund von genetischen Ursachen nicht lebensfähig. Vor Tschernobyl lagen diese Werte in der „jungfräulichen schwedischen Landschaft“ (Saura) bei zwischen neun und 13 Prozent. „Man kann da eigentlich ausschließen, daß dafür etwas anderes als Tschernobyl verantwortlich ist“, sagt Saura.

Was diese dramatischen Forschungsergebnisse für den Menschen bedeuten? In der Beantwortung dieser Frage bleibt Saura vorsichtig. In den dreißiger Jahren, so erklärt er, hätten die Forscher gedacht, man könne Resultate aus Taufliegen-Experimenten direkt auf Menschen übertragen. Nach Hiroschima und Nagasaki allerdings weiß man, daß das nicht so einfach geht. Trotzdem handele es sich in Gävle wohl um eine „ökologische Katastrophe in kleinem Maßstab. Aber lebensgefährlich ist das nicht.“ Und noch einmal: „Was das alles für den Menschen bedeutet, davon wissen wir noch nichts.“

Was der Professor alles nicht sagt: Nach wie vor sind die Erkenntnisse, die anhand der Fruchtfliegen gewonnen werden, für den Menschen relevant. An den Fruchtfliegen wurde die Schädlichkeit von Röntgenstrahlen, und - in den siebziger Jahren - des Dioxins nachgewiesen. Professor Jens Scheer von der Uni Bremen drückt sich deutlicher aus: „Quantitativ läßt sich die Zahl nicht auf den Menschen übertragen. Dennoch ist völlig sicher, daß analoge Schäden beim Menschen aufgetreten sind. Bisher wurde jedoch eine systematische Analyse unterlassen.“

In einigen Monaten wird Saura seine Forschungen abgeschlossen haben und die Ergebnisse auf einem Genetiker -Symposium in London vorstellen. Vorher noch werden zwei Doktoranden von Professor Scheer ihre umfassende Untersuchung über die Säuglingssterblichkeit in der BRD nach Tschernobyl der Öffentlichkeit präsentieren. Demnach ist die Säuglingssterblichkeit vor allem im Süden der BRD nach Tschernobyl deutlich angestiegen.

Das Dementi des Landes Bayern auf erste Pressenachrichten darüber beruhe auf „ungenügendem statistischem Material“, so Scheer.

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