: Sexuelle Perestroika in der UdSSR
■ Zeitschrift für Abschaffung des Straftatsbestands der Homosexualität
Moskau(ap/taz) - Ganz im Zeichen von Glasnost machte der russische Philosoph Igor Kon eine Reise in die USA. Während seines dreieinhalbmonatigen Studienaufenthalts in den Vereinigten Staaten besuchte er Krankenhäuser für Aids -Kranke und Institute für Familienplanung. Vor großem Auditorium berichtete er dieser Tage im Moskauer Künstlerhaus von seinen Eindrücken. Um „Lichtjahre“ liege das sexuelle Bewußtsein der Sowjetunion hinter dem Westen zurück, faßte er zusammen. „Im Westen schreiben Zeitungen über Dinge, ja sogar Sensationen, die bei uns nicht einmal den Spezialisten bekannt sind“.
Die erstaunte Zuhörerschaft reagierte darauf eher hilflos und beklagte in der Diskussion mit dem Philosophen eine vermeintliche Zunahme von Pornographie und Homosexualität. Der US-erfahrene Kon entgegnete, daß er beispielsweise sexuelle Darstellungen im künstlerischen Film nicht für pornographisch halte, daß Sex im Film sogar schädliche Hemmungen beseitigen helfen könne. Der Wissenschaftler machte seinen Zuhörern auch klar, daß manche Leute Homosexualität als etwas Natürliches ansähen und daß das sowjetische Gesetz, das gleichgeschlechtliche Beziehungen mit Gefängnis bedrohe, „aus der Steinzeit“ stamme.
Darüberhinaus plädierte er dafür, daß Sexualkunde zum Pflichtfach in den sowjetischen Schulen werden sollte. Mit einer vernünftigen Sexualaufklärung könne einer Ausbreitung der Immunschwäche Aids vorgebeugt und die Zahl der Abtreibungen vermindert werden. Wie es um die Aufklärung zur Zeit bestellt ist, beschreibt ein Witz, der derzeit in Moskau kursiert: „Kommt ein Lehrer in die Klasse und verkündet: Kinder, von heute an gibt es Sexualkundeunterricht. Es gibt mehrere Arten von Liebe: Jene zwischen Mann und Frau, die ist schön und rein, dann die zwischen zwei Männern oder zwei Frauen, die unmoralisch und schmutzig ist. Schließlich aber gibt es die allerbeste Form der Liebe, und das ist die Liebe zur Kommunistischen Partei. Mit ihr wollen wir uns befassen ...“
Westliche Fachleute sehen in der Abtreibung die Hauptform der Geburtenkontrolle in der Sowjetunion. Angeblich werden im Durchschnitt bis zu neun Schwangerschaften pro Frau abgebrochen. Einer Empfängnisverhütung könnte ein „chronischer Mangel“ an Kondomen entgegenstehen, der von der Zeitung des Gesundheitsministeriums, 'Medizinskaja Gaseta‘, beklagt wurde. Ein Leserbrief meldete, daß manche Leute in ihrer Verzweiflung als Kondomersatz sogar Luftballons verwendeten. Aber auch in Sachen Homosexualität ist das Gesundheitsministerium der öffentlichen Meinung weit voraus. In der gleichen Ausgabe wird die Abschaffung des Gesetzbuchparagraphen, der Homosexualität zur Straftat macht, gefordert.
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