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Erfolgszahl der Marktwirtschaft

Frankfurt (ap) - Alljährlich feiern Statistik, Politik und Wirtschaft ein gemeinsames Ritual. Bald nach dem Dreikönigstag verkündet der Präsident des Statistischen Bundesamts eine mit Spannung erwartete einzelne Zahl: die Zuwachsrate des Bruttosozialprodukts für das vergangene Jahr. Wie in einem Brennglas konzentriert darin die bundesdeutsche Leistungsgesellschaft das Ergebnis ihres Wirtschaftens. Der gebannte Blick auf diesen Prozentsatz läßt die komplizierte Berechnung und die nach Ansicht von Fachleuten begrenzte Aussagekraft in den Hintergrund treten.

Man will damit „ein möglichst umfassendes, übersichtliches, hinreichend gegliedertes, quantitatives Gesamtbild des wirtschaftlichen Geschehens geben“. Von drei Seiten gehen die 19 Beamten diese Aufgabe an. Zum einen versuchen sie, die Entstehung der wirtschaftlichen Leistung in den Produktionsstätten zahlenmäßig zu erfassen, zum anderen die Art und Weise, wie die hergestellten Güter von Privathaushalten, Unternehmen oder Staat verwendet werden. Dabei soll nach Abschluß dieser beiden Berechnungen jeweils derselbe Wert des Bruttosozialprodukts herauskommen. Die dritte Berechnungsweise ermittelt das sogenannte Volkseinkommen oder Nettosozialprodukt.

Ausgangspunkt der Berechnung über die Entstehungsseite ist der Bruttoproduktionswert, das ist die Summe des Verkaufswertes aller im Inland erzeugten oder gehandelten Waren und Dienstleistungen; hinzu kommen neue Lagerbestände. Davon werden - um Doppelzählungen auszuschließen - die „Vorleistungen“ abgezogen, das ist im wesentlichen der Wert von Gütern, die Unternehmen von anderen bezogen und für ihre eigene Produktion verwendet haben - zum Beispiel bei einem Konfitürehersteller der Wert der gelieferten Früchte und Gläser.

Übrig bleibt die bereits ziemlich nahe an das Bruttosozialprodukt heranreichende „Bruttowertschöpfung“. Werden hierzu noch die nichtabzugsfähigen Umsatzsteuern, Einfuhrzölle sowie die von Inländern - beispielsweise Pendlern - aus dem Ausland bezogenen Einkommen addiert, ergibt sich schließlich das Bruttosozialprodukt. Die Referenten des Statistischen Bundesamts verlassen sich bei ihren Berechnungen auf die von den Statistischen Landesämtern übermittelten Angaben der Unternehmen.

Bei der zweiten Berechnungsweise über die Verwendungsseite des Sozialprodukts addieren die Statistiker den privaten Verbrauch, den Staatsverbrauch wie Verwaltungs-, Verteidigungs- und Sozialausgaben, die Investitionen und Vorratsveränderungen der Unternehmen sowie den Außenhandelsüberschuß. Werden vom Bruttosozialprodukt noch Abschreibungen und indirekte Steuern abgezogen sowie Subventionen hinzugefügt, so ermitteln die Gesamtrechner das „Nettosozialprodukt zu Faktorkosten“, das mit dem Volkseinkommen identisch ist. Das Volkseinkommen ist die Summe des Bruttoeinkommens der Arbeiter, Angestellten und Beamten und der Einkünfte aus Unternehmertätigkeit und Vermögen, wozu auch die Zinserträge der Privathaushalte gehören. Aufschluß über die soziale Verteilung des Wohlstands gibt die Lohnquote, das ist der seit einigen Jahren wieder deutlich zurückgehende Anteil des Einkommens aus unselbständiger Arbeit am gesamten Volkseinkommen.

Nachdenklich stimmt die „Gesamtrechner“ vor allem, daß auf der Ertragsseite die „Schattenwirtschaft“ wie Hausarbeit oder illegale Schwarzarbeit und auf der Kostenseite die Schädigung der Umwelt nicht berücksichtigt wird. Bereitschaft zu Änderungen signalisiert der Präsident des Statistischen Bundesamts, Egon Hölder: „Da entstehen Vermögensgewinne, aber niemand weist nach, was an Naturschätzen verlorengeht.“

Den Wert der Arbeit von Hausfrauen und -männern schätzen die Statistiker auf 30 bis 50 Prozent des Bruttosozialprodukts, den der Schwarzarbeit und kriminellen Gewinntätigkeit auf drei bis fünf Prozent. Der in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung für „Soziale Indikatoren“ zuständige Carsten Stahmer will als Ergänzung zum Bruttosozialprodukt zunächst ein „Satellitensystem Umwelt“ aufstellen. Dabei brauchen die Umweltschäden noch nicht in Mark und Pfennig bewertet werden. „Aber uns lockt es natürlich als Statistiker, eine bestimmte Zahl zu bestimmen, ein korrigiertes Sozialprodukt“, erklärt Stahmer.

Man könne der Umwelt zwar „nicht eine D-Mark-Hülle überstülpen“. Sie läßt sich Stahmer zufolge aber als ein Kapitalstock vorstellen, dessen Wert ständig vermindert wird. Dabei ist zu „ermitteln, wieviel ausgegeben werden müßte, um Umweltschäden zu beheben oder zu vermeiden“. Allerdings läßt sich ein „Ökosozialprodukt“ dann nicht mehr so flott steigern wie nun schon im sechsten Jahr hintereinander das Bruttosozialprodukt.

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