: Rechtsbeugung
Zum Zwischenbericht des Untersuchungsausschusses ■ K O M M E N T A R
Eine Sensation war von dem Zwischenbericht nicht zu erwarten. Den Komplex der Bespitzelung des SPD-Abgeordneten Pätzold galt es vor den Wahlen abzuschließen. Der Agent Telschow hatte Pätzold bespitzelt, ohne formellen Auftrag, aber mit Wissen der Verantwortlichen hoch bis zum Innensenator; dieses Ergebnis wird festgehalten. Die abweichenden Voten von SPD und AL schließen da - mit aller politischen Plausibilität - auf Mittäterschaft. Aber in Berlin reicht natürlich bei verantwortlichen Politikern nicht der begründete Verdacht; sie müssen schon in flagranti erwischt werden.
Keine Sensation also, aber ein sensationelles Detail: Der VS-Agent Telschow, bekanntlich als Steinewerfer verhaftet, sollte durch ein „Schnellverfahren“ wieder freikommen und wurde vom Staatsanwalt (der Einfachheit halber) dazu gebracht, einen Steinwurf zuzugeben, den er gar nicht begangen hatte. Am 30. September 88 konferieren laut Zwischenbericht Staatsanwälte, Oberstaatsanwälte, Abteilungsleiter und auch der Generalstaatsanwalt und beschließen, den Sachverhalt (Tätigkeit für den VS) dem Richter zu verschweigen, um ihn „nicht ... einer Beeinflussung auszusetzen.“ Zu deutsch: Die gesamte Staatsanwaltschaft einigt sich darauf, dem Richter etwas vorzumachen, sie zwingt ihn, ein Urteil zu machen, das objektiv eine Rechtsbeugung darstellt.
Der Staatsanwalt hat im deutschen Strafprozeß einen hohen Rang. Er ist nicht Partei, sondern muß alle be- und entlastenden Tatsachen ermitteln. Der Richter wiederum hat das essentielle Recht der freien Beweismittelbeurteilung. Kernelemente des Rechtsstaates also, die verlangen, daß alles auf den Tisch kommt. Für die Berliner Staatsanwaltschaft offenbar kein Moment lang ein Problem, den Richter doch für dumm zu verkaufen. Der Verfassungsschutz steht eben hierzulande über der Strafprozeßordnung, dank diesen rechtsvergessenen Staatsanwälten. Man weiß, daß das allenthalben passiert; jetzt hat man es schriftlich. Wenn diesem Dokument nichts folgt, dann hat es einen weiteren, lautlosen Schritt vom Rechtsstaat zum Verfassungsschutzstaat gegeben.
Klaus Hartung
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen