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Heim ins Reich

■ In den Niederlanden begnadigte Naziverbrecher fünf Stunden später in der BRD

Berlin (taz) - Zwischen Holland und der Bundesrepublik gibt es keine Schlagbäume mehr. Und doch wurde, vielleicht zum letzten Mal in dieser Deutlichkeit, die Existenz einer Grenze klar, als am frühen Freitag abend Ferdinand aus der Fünten und Franz Fischer am Übergang Dammerbruch ihrem holländischen Krankentransporter entstiegen und - als freie Menschen nun - in deutschen Privatwagen Richtung Osten verschwanden: Vom Land der Opfer in das Land der Täter Heim ins Reich, nach Duisburg und nach Bigge im Sauerland. Die ersten Reaktionen, die prompt aus Bonn kamen, lassen eine klammheimliche Erleichterung darüber verspüren, daß mit der Entscheidung des niederländischen Parlaments, die beiden letzten Kriegsverbrecher zu begnadigen, wieder eine historische Altlast beseitigt wurde, die im Jubelchor der europäischen Einigung nur stören würde. Alfred Dregger begrüßte die Freilassung der beiden Greise im Namen seiner Fraktion als „humanitären Akt“. Die Haft habe jeden rechtsstaatlichen und moralischen Sinn verloren. Auch Bundespräsident von Weizsäcker hatte dem niederländischen Parlament noch am Freitag gedankt.

Was vielen Euromanen als Atavismus vorkam, hatte die holländische Gesellschaft zu deren eigener Überraschung eine Woche lang bewegt, aufgewühlt

aber nicht zerrissen. Denn der Riß ging durch jedeneinzelnen hindurch. Als gestern die populäre allsonntägliche Fernsehsendung „Het Capitool“, eine Art liberaler „Frühschoppen“, versuchen wollte, Bilanz zu ziehen, zeigte sich, auf welch dünnem Eis die Erleichterung mancher Amnestie-Befürworter gebaut ist. Der Sprecher der 19 Opfer, die mit ihrem Schreiben die Regierungsinitiative ausgelöst hatten, redete von einer „guten Entscheidung“, die auf Dauer den Opfern nutzen werde, weil die Rechtsstaatlichkeit den Sieg über geschichtliche Symbole davongetragen hätte. Vor einer Arithmetik des Vergebens und Vergessens warnten dagegen andere Opfer. Der ehemalige KZ-Häftling Minco vom niederländischen Verband der Kriegsopfer bezeichnete den vergangenen Freitag als „schwarzen Tag für die Menschenrechte“, weil im Namen des Rechtsstaates die Opfer zu lebenslanger Qual verurteilt worden seien. Obwohl es am Wochenende in den Niederlanden keine Demonstrationen gegeben hat, warnte in der gleichen Sendung der Redakteur einer israelischen Zeitung in Holland vor der falschen Hoffnung, daß nun wieder Ruhe ins Land einkehren könnte: „Die Ruhe ist ein Scheinargument“, sagte er, denn die Opfer kämen in ihren Träumen nie zur Ruhe. Und wies darauf hin, daß die beiden Naziverbrecher nur für jeden sechsten Ermordeten einen einzigen Tag Haft absitzen mußten.

Alexander Smoltczyk

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