: „HEUTE IST DIE TAT“
■ Der neue Naum-Gabo-Raum in der Berlinischen Galerie
Naum Gabos „Konstruktiver Kopf Nr. 3 (Kopf in einer Ecknische)“ erleichtert den Einstieg in die Gabosche Formsprache. Statt mit Volumen und Masse gestaltet er mit Transparenz, Tiefe, Räumlichkeit und Leere. Geschwungene und abgerundete Scheiben sind ineinandergesteckt und begrenzen die Hohlräume, die das Wesen des Kopfes ausdrücken. Er hat keine Augen und doch einen Blick, mit dem er dem Betrachter antwortet. Er hat keine Muskeln und doch eine sanfte Neigung. In diesem Kopf und in dem „konstruktiven Torso“, von dem die Berlinische Galerie nun ein frühes Modell aus Pappscheiben besitzt, setzte Gabo sich zwar noch einmal mit den klassischen Themen der Plastik auseinander, entwickelte an ihnen aber schon jene Formsprache, die ihn bald zur Aufgabe jedes gegenständlichen Bezuges führte.
Als Gabo 1917/18 in Kopf und Torso sein konstruktives Programm formulierte, beflügelte ihn ein revolutionärer Schwung, in dem Politik und Kunst noch eine selten ungebrochene Einheit darstellten. Kurz nach Beginn der russischen Revolution war er mit seinen Brüdern aus Skandinavien nach Rußland zurückgekehrt.
In Moskau schrieb er 1920 das „Realistische Manifest“, das er und sein Bruder Antoine Pevsner unterschrieben. Das Manifest war eine kunsttheoretische Schrift, die vom Scheitern des Kubismus und Futurismus ausging und deren Unfähigkeit, auf die Bedürfnisse der Zeit einzugehen, kritisierte. Gabo verwarf die malerische Funktion der Farbe, die darstellende der Linie. Volumen und Masse akzeptierte er nicht mehr als Voraussetzungen der Plastik. Die geforderte Kunst prägte ein besonderer Realismus, nichts weniger als die „prosaische Geschichte, die man Leben nennt“, zu erzählen und verbannte die Subjektivität des Künstlers. Gabo rahmte sein Manifest in hymnische Sätze an die Gegenwart und die Tatkraft ein: „Die Kunst ist aufgerufen, den Menschen überall zu begleiten, wo sein unermüdliches Leben strömt und wirkt ... An der Werkbank, am Tisch, bei der Arbeit, bei der Erholung, beim Spiel, an Arbeitstagen und an Feiertagen ..., damit die Flamme des Lebens in der Menschheit nicht verlösche.“ 5.000 Exemplare dieser von revolutionärem Pathos durchdrungenen Forderung wurden gedruckt und öffentlich angeschlagen.
Gabo, wie er sich zur Unterscheidung von seinem Bruder, dem Maler Antoine Pevsner, nannte, war 1890 in Briansk geboren und hatte in München zuerst Medizin, dann Naturwissenschaft und schließlich an der Technischen Hochschule Hochbau studiert. Er besuchte seinen Bruder, den Maler, in Paris und hörte Vorlesungen über Kunstgeschichte. Als sich die Brüder bei Beginn des Ersten Weltkriegs - in Deutschland galten die Russen als feindliche Ausländer - nach Schweden zurückzogen, begann Gabo an seinem künstlerischen Konzept zu arbeiten, das nie seine Affinität zur Naturwissenschaft verlor. Kunst und Wissenschaft waren für ihn zwei notwendige und notwendig unterschiedene Sprachen: „Kunst und Wissenschaft sind zwei verschiedene Ströme, die derselben schöpferischen Quelle entspringen und in dasselbe Meer der allgemeinen Kultur münden, doch fließen diese Ströme in verschiedenen Betten. Die Wissenschaft lehrt, die Kunst sagt aus, die Wissenschaft überzeugt, die Kunst handelt, die Wissenschaft erfaßt, informiert und beweist.“
Kopf und Torso, konstruktiv: Der Name „Konstruktivismus“ bezieht sich auf die Methode der Arbeit am Kunstwerk, die Analyse des Körpers und seiner Bewegungsenergien, Umsetzung in Räume und Durchlässigkeit, Herstellung einzelner Elemente und Zusammensetzung. Dieser Blick auf die quasi ingenieurtechnische Leistung verstellt in der Rezeption des Konstruktivismus oft den Zugang zu den Intentionen des Künstlers. Das Konstrukt sollte einen Fakt hervorbringen, real wie der Kosmos und das Atom. „Jedes Ding oder jedes Tun, das das Leben steigert, es vorwärts treibt, ihm etwas hinzufügt im Sinne von Wachstum, Expansion oder Entwicklung, ist konstruktiv“, schrieb Gabo in einem Brief an seinen Freund Herbert Read.
Doch Gabos Realismus der Entwicklungsenergien entspricht bald nicht mehr dem Realismus, den die junge Sowjetmacht als pädagogische Bildersprache suchte. 1922 erhielt Gabo den Auftrag, in Berlin die abstrakte Abteilung der „Ersten Russischen Kunstausstellung“ mit zu organisieren. Damit beginnt seine Berliner Zeit, die zum einen exemplarisch für die Geschichte russischer Kultur in Berlin zwischen 1920 und ihrem gewaltsamen Ende 1933 und zum anderen stellvertretend für die Entwicklung des Konstruktivismus nun zu einem neuen Schwerpunkt der Ausstellung und Forschung der Berlinischen Galerie wird.
Gabos konstruktive Methode hat dabei den Kunsttheoretikern eine Überraschung vorbehalten. Sein Werk aus der Berliner Zeit, das lange als verschollen galt, wurde nach seinem Tod, Anfang der achtziger Jahre, in Einzelteile zerlegt und in Kisten verpackt auf dem Speicher seines Hauses im US-Staat Connecticut wiedergefunden. Noch jetzt zeigen zwei Vitrinen der Berlinischen Galerie einzelne Bauelemente: ein Gabo -Puzzle. Von den Erben Gabos konnte die Galerie Skulpturen, Konstruktionen, Zeichnungen, Architekturskizzen, Briefe und Tagebücher aus dieser Phase zusammenhängend erwerben für 4,7 Millionen Mark, die die Deutsche Klassenlotterie bewilligte. Die Erben, froh über den neuen Zusammenhalt der Einzelstücke, schenkten einen Teil dazu, der auf zwei Millionen geschätzt wird. Für Jörn Merkert, dem mit seinem guten Vertrauensverhältnis zu den Erben und seinem langgehegten Interesse für Gabo dieser Fischzug gelang, spielt nun der Geldwert der Objekte, da sie einmal im Besitz des Museums sind und nicht mehr verkauft werden, keine Rolle mehr. Aber es kribbelt den Kunsthistorikern in den Fingern: Material, um „in die Küche des Künstlers zu gucken“ (Merkert), das durchforscht und aufgearbeitet sein will, um die Legende Gabo mit Tatsachen zu unterfüttern. Tagebücher, Briefe: Der Historiker häuft diese vor sich an wie das Eichhörnchen seinen Wintervorrat, glücklich, daß die Arbeit nicht ausgeht. Der Apparat zur Erzeugung von Katalogen und Dokumentationen wird angeheizt.
Schon jetzt zeugt der neu eingerichtete Gabo-Raum von seiner Entdecker- und Experimentierfreudigkeit hinsichtlich neuer Werkstoffe für seine Raumkonstruktionen: Die Suche nach Leichtigkeit und Transparenz ließ ihn neue Kunststoffe ausprobieren. Er versuchte, Bewegungsenergien nicht nur durch den Schwung der Form auszudrücken, sondern wirklich mit Hilfe eines Elektromotors zu erzeugen - da er die Technik dabei aber zu sehr in den Vordergrund gerückt fand, blieb es bei einer 'kinetischen Konstruktion‘. In Entwürfen zu einem „Palast der Sowjets“ (nie realisierter Wettbewerb von 1931) setzte er hohe abgerundete Glastürme zwischen pilzartige Baumassen. Er skizzierte den Palast aus einer niedrigen Perspektive, die ihn einem gelandeten Raumschiff ähneln läßt. Doch er hat seine phantastischen Architekturvisionen auch mathematisch berechnet und für ihren Schwung besondere Konstruktionsformen entwickelt. Bauten ausführen ließ man ihn allerdings nie.
Katrin Bettina Müller
Naum Gabo in der Berlinischen Galerie. Alle Zitate aus dem Katalog, den die Berlinische Galerie und der Museumspädagogische Dienst dazu im Verlag Dirk Nishen herausgeben (22 Mark).
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