„SEI GEGRÜSST, DUNKLER ENGEL“

■ „La vita nuova“ von Ermanno Wolf-Ferrari in der Philharmonie

Ein geistliches Oratorium - eine konzertante Oper - oder gar ein Singspiel? Gattungsspezifisch nur schwer einzuordnen ist „La vita nuova“, das am Donnerstag vom Symphonischen Orchester Berlin und dem Chor der St. Hedwigs-Kathedrale unter Leitung von Roland Bader zur Aufführung gelangte. Doch dieses von der Musikwissenschaft permanent diskutierte Problem ist wohl auch mehr ein Streit um des Streites willen, insbesondere wenn es um Musik des 20. Jahrhunderts geht.

Homer, Dante, Nietzsche und zuletzt Salvatore Dali (man vergleiche den entsprechenden Zyklus in der Zitadelle, der dort noch bis zum 16. Februar zu sehen ist) haben das Thema des „Neuen Lebens“, das durch die Begegnung des Neunjährigen mit Beatrice begann, künstlerisch verarbeitet. Immer wieder wurde es in Opern, musikalischen Dichtungen und im Kunstlied vertont. Wolf-Ferrari diente in erster Linie Dantes „Göttliche Komödie“ von 1290 als Grundlage für die hochdramatische Konzeption, ohne jedoch spätere Auseinandersetzungen mit dem Stoff zu ignorieren. So finden sich in dem 1903 uraufgeführten Stück Anlehnungen an Monteverdis „L'Orfeo“, Gustav Mahlers Auferstehungssymphonie sowie Parodien mittelalterlicher Hofmusik und barocke Formprinzipien.

Beatrice, mit süßer und klarer Stimme von Celina Lindsley gesungen, stirbt als junge Frau, wobei sie diesen Akt ganz bewußt „lebt“ („sei gegrüßt, dunkler Engel...“).

Doch die Liebe des Knaben zu dieser Inkarnation höchster menschlicher Empfindung bleibt in tiefem Schmerz bestehen, vom Physischen abgetrennt findet sie die Verklärung.

Dem Knabenchor der St. Hedwigs-Kathedrale war die dargestellte Problematik wohl doch etwas zu lächerlich, und auch die langen Pausen zwischen den Einsätzen wurden zur Geduldsprobe. Die Rolle des Sprechers hatte der Berliner Schauspieler Helmut Wildt übernommen mit warmer, einfühlsamer Stimme, wie aus einer anderen Welt. Sehr unbefriedigend war der Part des Orchesters, insbesondere das Zusammenspiel der Flöten. Der harmonisch und stimmtechnisch höchst anspruchsvolle Chorauszug fand mit kleinen Ausnahmen eine gute Wiedergabe, was er auch schon im ersten Teil des Konzerts mit der etwas trägen „Nänie“ für Chor und Orchester von Johannes Brahms gezeigt hatte. Der Bariton George Fortune, Ensemblemitglied der Deutschen Oper, hat seine Rolle in „La Vita nuova“ in angemessener Tragik spannungsvoll interpretiert. Weniger überzeugend war sein Solo in den feinsinnigen, die Verzweiflung und das Glück der Welt offenbarenden „Liedern eines fahrenden Gesellen“ von Gustav Mahler. Das hatte leider zu wenig mit den diffizilen Ideen des Komponisten oder dem jugendlich-suchenden Gesellen zu tun.

Roland Bader ist nicht nur für seine musikalische Leistung zu danken, sondern vor allem für das außergewöhnliche und spannende Programm.

Wie so üblich ließ die Disziplin des Publikums mal wieder stark zu wünschen übrig: Da wird mitten in Dantes tiefsten Liebesschmerz gehustet und geschnupft, man göbelt und hengstet...

Axel Körner