: „Ein neues Kapitel Bahngeschichte“
AtomgegnerInnen fuhren mit dem Bummelzug die zukünftige Atomtransportstrecke zum Zwischenlager Gorleben ab / Großer Bahnhof am Bahnhof / Die ersten „Castor„-Behälter werden in Kürze erwartet ■ Auf der Wildsau Ute Scheub
Gemütlich zockelt die Wildsau durch die Ostheide. Hier ein idyllisches Kiefernwäldchen, dort eine Lichtung, auf der der Förster mit der Försterin im Heidekraut sitzt. Eine schnuckelige Landschaft. Manchmal auch schleicht die Wildsau an verlassenen und vernagelten Bahnhofshäuschen vorbei. Wildsau, so heißt nämlich der Bummelzug, der nur noch sonntags morgens von Hamburg nach Dannenberg rattert, die Wochenendtouristen ins Wendland bringt und abends wieder zurück.
Heute aber hat die Wildsau rund 150 protestierende AtomgegnerInnen in ihre vier Waggons geladen. Denn vielleicht morgen schon, jedenfalls in der nächsten Zeit, wird ein anderer Zug die ersten Castorbehälter mit hochradioaktiven abgebrannten Brennelementen von Stade zum Verladebahnhof Dannenberg mit Endstation Zwischenlager Gorleben bringen. Ein Hauch von Nostalgie weht durch die Bummelbahn, die in die Vergangenheit zurückzufahren scheint, in die antiatombewegten 70er Jahre. Eine Frau hat das lila Kirchentagstuch umgeschlungen, eine kleine Kapelle Quetschkommode, Bläser und Keksdosen-Trommeln - intoniert schüchtern das alte „Wehrt euch, leistet Widerstand“, das irgendwann niemand mehr hören wollte. Die KämpferInnen von einst haben in den letzten Jahren sichtlich viel dafür getan, die Widerstandsreihen nächtlich zu erweitern: Kinder kreischen und wimmeln in Massen durch den Zug.
Püfff. Ausgerechnet vor dem Dörfchen Radbruch ein Laut, als ob die Luft aus den Reifen weicht, und ein scharfes Bremsen. Irgend jemand hat die Notbremse gezogen. „Damit der Zug nicht aufs falsche Gleis gerät, aufs Atomgleis.“ Die Zivilpolizisten, die sich unauffällig in die Menge gemischt haben, schauen sich mißtrauisch um, wer gerade seinen Platz verlassen hat.
Ihre Kollegen stehen schon an jedem Bahnhof: Bereit, sich dazwischenzuwerfen, wenn der Sturm auf die Billetschalter beginnt, der bekanntlich jeder deutschen Revolution vorausgeht? Großes Hallo in Lüneburg, Neetze, Dahlenburg und wie die Dörfchen alle heißen: Die örtlichen Anti-Atom -Initiativen begrüßen die Wildsau mit Transparenten und Winkewinke. Insgesamt 14 solcher Initiativen sind entlang der „Atomstrecke“ zwischen Stade und Dannenberg entstanden, richten Veranstaltungen über die Gefahren von Atomtransporten und Niedrigstrahlung aus und bewachen die Strecke, weiß Mitorganisator Wolfgang Ehmke aus Lüchow, der zwischendurch im „Strahlenanzug“ rausspringt und den Zug mit einem Geigerzähler abgeht.
Großer Bahnhof auch am Bahnhof Göhrde. „Lieber zehn Wildsäue als ein Castor“, verkündet das Transparent, vor dem eine Anti-Atom-Band rockig aufspielt. Clowns, Hexen und Feuerschlucker tanzen ihren Reigen und zwingen die deutsche Beamtenseele des Schaffners in die Verzweiflung: „Ich geb's auf.“ Der Zug hat jetzt schon über eine halbe Stunde Verspätung.
Dannenberg, Endstation. Hier soll der längst fertiggestellte Hebekran die heiße Atomfracht auf Laster umladen. Mit starrem Blick fixiert eine Gruppe von Atomfans den Kran. „Atom im Herzen, Stroh im Kopf.“ Es sind Strohpuppen. Verstärkt durch nimmermüde Wendländer sammeln sich die DemonstrantInnen am Fuße des Krans, um „dem blonden Hans von der Bundesbahn“ zuzuhören. Den scheint die Bundesbahnwerbung für den neuen Interregio beeindruckt zu haben. „Heute wurde von uns ein neues Kapitel Bahngeschichte aufgeschlagen: der Antiatomzug“, verkündet er. „Sie können die Fahrzeit als Demonstrationszeit ausnutzen, treffen nette Leute. Am großen Tisch findet die ganze BI-Familie Platz. Die Bänke sind aus grobem Eichenholz, mit Bienenwachs gewachst, hart, aber ökologisch einwandfrei. Machen Sie sich's gemütlich in der Müslirunde ...“
Angesichts der bevorstehenden Castortransporte wahrscheinlich aus Stade oder vielleicht auch jedem anderen AKW ist dem blonden Hans aber so gemütlich nicht zumute. Noch hat das Verwaltungsgericht Stade, Kammer Lüneburg, nicht über den Einspruch der Bürgerinitiative Lüchow -Dannenberg gegen die sofortige Inbetriebnahme der Castor -Halle im Zwischenlager Gorleben entschieden, und die Staatliche Physikalisch-Technische Bundesanstalt hat angekündigt, solange keine Transportgenehmigung für die Castorbehälter zu erteilen. Diese Zusage ist jedoch bloß freiwillig und kann täglich und stündlich zurückgezogen werden. Dann hätte das erste Mal hochradioaktiver Müll freie Fahrt ins Wendland. Deshalb sinnt der blonde Hans auch über ein neues Bündnis: „Wir sind bereit zur Zusammenarbeit mit den von Atomfrachten und Streckenstillegungsprogramm bedrohten Eisenbahnern. Für den Castor müssen alle Signale auf rot stehen!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen