piwik no script img

Dialektik der Aufklärung

■ Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“ ist ein Trauerspiel vom Erwachen der eigensinnigen Naturkraft in der der Kreatur, meinte Walter Benjamin: „Frühlings Erwachen“ in der Inszenierung am Bremer Theater von Hans Falar

Schon 1929 wandte sich Walter Benjamin gegen die Festlegung von Wedekinds „Frühlings Erwachen“ auf die historisch obsolete Unterdrückungssituation im wilhelminischen Deutschland. Das Stück sei „nicht die Moritat von den ahnungslosen Flegeln und Backfischen, sondern das Trauerspiel vom Erwachen der eigensinnigen Naturkraft in der Kreatur“.

Wedekinds Kindertragödie kann zur Falle gerade für heutige Theatermacher werden, sofern sie als planes Aufklärungsdrama inszeniert wird. Aktualität und Faszinationskraft resultieren aus dramatisch subtil vermittelten Brüchen und Klüften. Wedekind entnimmt dem Vorrat des seinerzeit modischen sentimentalen Dramentyps Kindertragödie seine Figuren, die ordnungsbesessenen-brutalen Väter und hilflos gefühligen Mütter, die geschundenen, in pubertäre Verzweiflung getriebenen Kinder. Zugleich aber setzt er aufbrechende Triebwünsche frei, Potenzen des Le

bens, die in der Konfrontation der Geschlechter, den flottierenden Pubertätsdiskursen aufscheinen.

Hans Falars Aufführung stellt das Inventar eines wilhelminischen Charakterpanoptikums teilweise krass aus, die verschroben-brutalen Lehrertypen ebenso wie die geduckt unaufgeklärten Frauenfiguren. Sie nimmt selbst dem von Wedekind der Frau Gabor eingeschriebenen erzieherischen Reformgeist vollends seinen aufklärerischen Schein: die Geste der infantilisierenden Kleidungskorrektur an Melchior dementiert die verständnisvolle Rede; zum Schauplatz der endgültigen Niederlage wird das Ehebett mit der zeitgemäß in Szene gesetzten ehelichen Vergewaltigung.

Allerdings: Solche eher routiniert und kaum mehr schockierend wirkenden Vereindeutigungen schaden letztlich der Essenz eines Dramas, das sich eben nicht in der Darstellung wilhelminischer Unterdrückungsstrukturen

erschöpft. Besonders deutlich wird diese Tendenz in der Korrektionsanstaltszene. Die entlarvende Kraft des Komischen als radikale Antithese zum immer schon repressiven programmatischen Sprechen und Agieren droht unterzugehen in der kalten Demonstration der militärisch ornamentalisierten nackten Körper und autoritär-gewaltsamen Gesten. Die überdeutlich in die dramatische Aktion montierten interpretatorischen Hinweise bestimmen auch den Auftritt des „vermummten Herrn“ in der Schlußszene, in der nur wenig zu verspüren ist vom ironisch-verfremdeten Schluß des Textes.

Geboten wird, auch was die schauspielerischen Entwürfe der Erwachsenenrollen angeht, gemäßigt modernistisches und gerade damit konventionelles Theater, eines sicherlich auch mit originellen Einfällen: eine operettenhaft-leichte Schlußsequenz mit dem unter Offenbachschem Can Can-Zitat auf die Bühne

springenden Ensemble, eine schlichte, auf das Baumsymbol konzentrierte Bühnenausstattung.

Spannend allerdings wird die Aufführung erst dort, wo die jugendlichen Darsteller ihre Spielfreude beinahe ungezähmt ausagieren können: gerade die unprofessionelle Rollendarstellung schafft Irritationen und Brüche, die der kalkulierten Gesamtkonzeption teilweise entgegenlaufen. Hier wird augenblicklich erfahrbar, was Wedekinds Stück heute tatsächlich noch aktuellen Gehalt gibt: Die Spannung von immer schon deformiertem, in seiner Explosivität dennoch authentischem Triebbegehren und der Unmöglichkeit seiner Realisierung in einer entkörperlichten Erwachsenenwelt.

Wendlas wissend-unwissende Naivität erscheint ebenso anrührend wie kindlich leicht, die linkisch -bramarbasierenden Gespräche von Melchior und Moritz weisen über hilflose Pennäler

phantasien hinaus auf Schichten des Unbewußten, die Wedekind vor Freuds Entdeckungen ahnend gestaltete. Die Darsteller der Jugendlichen nehmen die angstmachenden wie hoffnunggebenden Möglichkeiten des Geschlechtlichen ernst, indem sie sie, von der Last des Demonstrativen befreit, sinnlich-erlebend ausspielen, die sadistisch-masochistischen Impulse von Wendla und Melchior, die Onanierphantasien Rilows, die faszinative Potenz der streunenden Ilse.

In diesen Versuchen von Entgrenzung verliert die Inszenierung den Ruch des Schulmeisterlichen, den Wedekind zurecht als die Substanz des Stückes negierend sah. Die jugendlichen Darsteller zeigen, daß das Leben, wie es sich in der dramatischen Konstellation darbietet, zwar von ungeahnter Gemeinheit sei, aber doch auch mehr als das: Schauplatz von Hoffnungen, die dem Erleben zugänglich zu machen es gilt.

Johannes G. Pankau

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen