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Die Große Synagoge erwacht zu neuem Leben

Die Jüdische Gemeinde in Budapest stellt wieder die Frage nach ihrer Identität / Annäherung zwischen Oppositionellen und Religiösen / 50 Millionen Mark werden für die Restaurierung von Europas größter Synagoge gebraucht / Die einzige Rabbinerschule Osteuropas steht in Budapest  ■  Von Verena Dohrn

Die Große Synagoge von Budapest. Sie ist baufällig geworden, die Restaurierung wird teuer werden: 50 Millionen Mark, so schätzt man. Vor 130 Jahren wurde sie erbaut. Die größte Synagoge Europas: 5.000 Menschen haben darin Platz. Sie ist ein Wahrzeichen für die besondere magyarische Symbiose zwischen Ungarn und Juden im Zeichen des allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwungs unter der k.u.k.-Regierung. Der Philosoph Georg Lukacs ist ein Produkt dieser Symbiose, ebenso der Literatur- und Kunstsoziologe Arnold Hauser und die ungarische Schule der Psychoanalyse von Sandor Ferenczi.

Die Synagoge ist genauso Mahnmal für den Holocaust in Ungarn: Im Herbst 1944, als die faschistische Pfeilkreuzlerregierung an die Macht kam, verbarrikadierte man sie, machte sie zum Zentrum des jüdischen Ghettos von Budapest. Wohl 4.000 Juden wurden hier ermordet. Man begrub sie - gegen jüdischen Brauch - im Innenhof der Synagoge. Von etwa einer Million Juden in Ungarn haben in Budapest - und nur dort, die Juden in der Provinz wurden alle deportiert und ermordet - etwa 200.000 den Nationalsozialismus überlebt, vor allem dank der Rettungsaktionen des legendären schwedischen Diplomaten Raoul Wallenberg (Herbst/Winter 1944, die Rote Armee war auf dem Vormarsch, da hatten solche Aktionen wieder eine historische Chance). Die Hälfte der Überlebenden wanderte nach Amerika oder Israel in der ersten Auswanderungswelle gleich nach dem Krieg, in einer zweiten nach dem ungarischen Oktoberaufstand 1956 aus. Der Rest, 80.000 bis 90.000, blieben in Budapest. Von denen sind ungefähr (eine statistische Erhebung gibt es nicht) 16.000 in den jüdischen Gemeinden (22 Synagogen) registriert.

Die überwältigende Mehrheit der Juden in Budapest schweigt zu Fragen der Religion. Ein Teil von ihnen bekennt sich zur jüdischen Identität qua Tradition - aus dieser Gruppe engagieren sich einige politisch in der Opposition. Der bei weitem größere Teil schweigt überhaupt.

Rabbinerschule mit

fünf Studenten

Das Jüdische Viertel von Pest. Enge Straßen, drei bis vier Etagen hohe, schwarz-verrußte Häuser. Menorah und Davidsstern markieren ihre Herkunft. Kein Museums- und Touristenviertel, sondern ein Wohn- und Geschäftsbezirk. Die Große Synagoge steht dort, die orthodoxe ein paar Straßen weiter. Neologen, die ungarische Variante des Reformjudentums, und das orthodoxe Rabbinat halten hier das Judentum, die lebendige jüdische Kultur in Budapest, aufrecht. Einen Schächter gibt es im Jüdischen Viertel. Einen jüdischen Becker. Eine Mikve, das rituelle Bad. Einen dem orthodoxen Rabbinat unterstellten Kindergarten. Zehn bis zwölf Kinder besuchen ihn, davon einige Schulkinder, die nachmittags kommen. Ein koscheres Restaurant. Ein Krankenhaus, drei Altersheime und ein Gymnasium hat die Jüdische Gemeinde für Mädchen und Jungen, die Anne-Frank -Schule mit 50 Kindern, untergebracht im Jozsef-Körut, zusammen mit der Rabbinerschule - der SS diente das Gebäude als Gestapoquartier und Durchgangslager für Juden. Die Rabbinerschule ist die einzige in den sozialistischen Ländern, und doch studieren nicht mehr als fünf Männer hier.

Daneben wurde ein Sozialdienst für arme und alte Menschen eingerichtet: eine soziale Zentralküche (etwa 1.000 Bedürftige erhalten mit Unterstützung des „American Jewish Joint Distribution Commity“ ihr Mittagessen umsonst). Erstes Gebot für die Jüdische Gemeinde: das religiöse Leben aufrechtzuerhalten mit all seinen Regeln und Institutionen. Zurückhaltung und Anpassung kennzeichnen bisher ihr Verhältnis zum ungarischen Staat, das Schlagwort von der „Hoffnung auf Einigkeit des ungarischen Judentums“ (erst sie mache stark), ihre Haltung gegenüber den neuen Möglichkeiten zur Auseinandersetzung, die die ungarische Reformpolitik unter dem Druck der Öffentlichkeit hat real werden lassen nicht zuletzt dank Gorbatschow, dank der Aufbruchstimmung von Perestroika in der Sowjetunion. Die Legalisierung oppositioneller Parteien und Vereinigungen ist nun eine beschlossene Sache.

Seit kurzem gibt es neben der Jüdischen Gemeinde politisch aktive „alternative“ Organisationen wie den Jüdischen Kulturbund und eine ungarisch-israelische Freundschaftsgesellschaft. Ein engagierter Vertreter dieser Organisation ist György Gado, 56 Jahre alt. Im Jahre 1967, während des israelischen Sechstagekrieges, verließ er die Kommunistische Partei aus Protest gegen die antizionistische Politik der ungarischen Regierung. György Gado spricht für die, wie er sagt, schwer schätzbare große Mehrheit der nichtreligiösen Juden in Ungarn, für die jüdische Kultur im „säkularen Sinn“. Er wendet sich nicht gegen die Religion, wohl aber gegen die Staatsloyalität der Jüdischen Gemeinde, gegen ein unpolitisches Verständnis vom Judentum und fragt nach Identität der ungarischen Juden heute. Nicht allein die Furcht vor Antisemitismus bestimme sein Selbstbewußtsein negativ, es gebe auch etwas Positives, eine Lebensweise vielleicht, eine gewisse Ehrerbietung dem Wissen, den Büchern gegenüber.

Jüdische Samisdat-Zeitung

Seit zwei Jahren gibt er die Samisdat-Zeitung 'Der ungarische Jude‘ heraus, ein Kontrastprogramm zur offiziellen ungarisch-jüdischen Zeitung 'Neues Leben‘. Abgesehen davon arbeitet György Gado im „Jüdischen Kulturbund“ mit, einer politisch unabhängigen, „neutralen“ (wie der Name schon sagt) kulturellen Vereinigung, die nun, im Zuge der allgemeinen Liberalisierung, eine Diskussion zwischen den jüdischen Oppositionellen und der Gemeinde möglich mache, zwischen denen es bisher keine Berührungspunkte gegeben habe. Ähnliches gelte für die Gesellschaft zur Förderung der Beziehungen zwischen Ungarn und Israel, die vor kurzem, im Dezember 1988 gegründet wurde.

Viele Juden in Ungarn haben sich die Lösung der Jüdischen Frage von kommunistischen Idealen versprochen, in der Rätebewegung 1918, dann noch einmal nach dem Zweiten Weltkrieg. Für den Kommunismus haben viele ihre Herkunft geleugnet, Leiden und Zorn über Kränkungen verdrängt. Die Krise des Staatssozialismus, der wiedererstarkende Antisemitismus in der UdSSR, die bohrenden Fragen der eigenen Kinder, die von ihrer Umgebung (und nicht von zu Hause) über ihre Herkunft „aufgeklärt“ werden - all das bewegt die schweigende Mehrheit der Juden in Budapest allmählich dazu, sich der Frage nach ihrer Identität neu zuzuwenden.

Er sei Jude, sei anders als die anderen, bekennt György Konrad, der Schriftsteller und Soziologe, in einem kürzlich erschienenen Essay mit dem Titel „Im Angesicht Gottes“. Er sei nicht koscher, die Mutter seiner Kinder sei Christin und der Rabbi habe ihn durchfallen lassen im Religionsunterricht aus Rache, weil er vor der Großen Synagoge in der Dohany utca aus einem Witzblatt ein Barett gefaltet habe. Aber auch er ist auf der Suche nach seiner Identität als Diasporajude: „Ich will mich nicht assimilieren, ich will mich nicht dessimilieren,“ schreibt er, „ich bin Ungar und Jude.“ Die Assimiliationsbestrebungen der Juden hätten fatale Folgen gehabt, man habe sich den Hausherren aufgedrängt, dafür das Selbstbewußtsein eingebüßt, nichts als Haß und Antisemitismus geerntet, und sei so der Judenverfolgung hilflos ausgeliefert gewesen.

György Konrad ist einer aus der großen Mehrheit der im strengen Sinne nicht gläubigen Juden, die sich nun erneut mit ihrer jüdischen Identität auseinanderzusetzen beginnen. Auf diese Weise trägt er seinen Teil zur Lebendigkeit der jüdischen Kultur in Budapest bei.

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