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Wer hungerstreikt soll zahlen

Oberlandesgericht Koblenz: Hungerstreikende Gefangene müssen Pflegekosten erstatten  ■  Von Vera Gaserow

Berlin (taz) - Strafgefangene, die aus Protest gegen ihre Haftsituation oder aus Solidarität mit anderen Mithäftlingen in einen Hungerstreik treten, können dafür künftig kräftig zur Kasse gebeten werden. Nach einer Grundsatzentscheidung des Oberlandesgerichts Koblenz, die jetzt veröffentlicht wurde, haben die jeweiligen Bundesländer einen Anspruch auf Erstattung der Kosten, die etwa durch eine Verlegung des Hungerstreikenden in ein Haftkrankenhaus oder durch seine ärztliche Betreuung entstehen. In dem vorliegenden Präzedenzfall verurteilten die Koblenzer Richter einen ehemaligen Strafgefangenen, 3.200 Mark an die rheinland -pfälzische Landeskasse zu zahlen.

Der Gefangene Sch. war im Januar 1985 aus Solidarität mit den RAF-Gefangenen in einen dreiwöchigen Hungerstreik getreten. Gegen seinen Willen war er schon nach einer Woche in das Vollzugskrankenhaus Wittlich verlegt worden. Dort hatte er sich ausdrücklich gegen eine ärztliche Untersuchung und Behandlung gewehrt. Dennoch stellte ihm das Land Rheinland-Pfalz nach seiner Haftentlassung mehrere tausend Mark für den Transport in das Krankenhaus und die ärztliche Betreuung in Rechnung.

Das Landgericht Koblenz hatte in erster Instanz in einem Zivilrechtsstreit die Ansprüche auf Kostenerstattung zurückgewiesen. Die Richter der nächsthöheren Instanz meinten jedoch nun, daß hungerstreikende Gefangene Fortsetzung auf Seite 2

zu Recht für die Folgekosten ihres Protestes aufkommen sollten. Ein Hungerstreik stelle eine „grob fahrlässige oder vorsätzliche Selbstverletzung“ dar und für solche müsse ein Gefangener nach Paragraph 93 des Strafvollzugsgesetz der Vollzugsbehörde die Aufwendungen erstatten. Dies gelte auch dann, wenn der Hungerstreikende selber die Maßnahmen ablehnt, die die eigentlichen Kosten verursachen. Die Richter führten zur Begründung weiter aus, im Strafvollzug solle das

Verantwortungsbewußtsein der Häftlinge für ein geordnetes Zusammenleben geweckt werden. Deshalb müßten Gefangene auch lernen, die Kosten für die Folgen ihrer Handlungen selbst zu übernehmen.

Nach Auskunft von Anwälten könnte diese Präzedenzentscheidung der rheinland-pfälzischen Richter weitreichende Folgen haben. Sie könnte nicht nur andere Bundesländer animieren, hungerstreikende Gefangene mit Zahlungsaufforderungen nachträglich zu bestrafen. Mit demselben Zynismus, mit dem die Koblenzer Richter den Hungerstreik ahnden, könnte man zukünftig auch Gefangenen, die sich aus Verzweiflung in ihrer Zelle das Leben nehmen wollten, hinterher die Artzrechnung für ihren Selbstmordversuch präsentieren, fürchtet der Frankfurter Anwalt Rainer Koch. (AZ: 5 U 1194/86)

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