Tarifpoker um den Pflegenotstand

Tarifverhandlungen im Gesundheitsbereich / Die ÖTV fordert höhere Löhne und mehr Personal  ■  Von Martina Habersetzer

Berlin (taz) - In Ludwigsburg schlägt heute der Gong zur zweiten Tarifrunde für die Beschäftigten im Gesundheitswesen. Noch jedoch, so scheint es, sind die Tarifpartner so weit voneinander entfernt, daß die eine Partei bestreitet, daß es das gibt, worüber die andere verhandeln will: den Pflegenotstand in Krankenhäusern.

„Pflegenotstand gibt es überhaupt keinen“, ereifert sich Wiese, stellvertretender Geschäftsführer der Tarifgemeinschaft Deutscher Länder (TDL), die zur Zeit mit der Gewerkschaft ÖTV neue Tarifvereinbarungen für Pflegekräfte aushandelt. Das Phänomen Pflegenotstand sei eine „Sensationsgeburt der Presse“ und letztendlich nur „herbeigeredet“. Dabei ist selbst bis zu den gepolsterten Politikeretagen durchgedrungen, daß der Pflegenotstand existiert. In einer ausgiebigen Debatte hatte sich der Bundestag bereits Anfang des Jahres mit dem Thema befaßt. Derartige Diskrepanzen sind für den Sprecher der ÖTV -Zentrale in Stuttgart, Rainer Hillgärtner, nicht neu: „Zwar wird auf politischer Ebene ein Mißstand zugegeben, aber wenn konkretes Verhandeln gefragt ist, ziehen die Arbeitgeber den Schwanz ein.“

Ziel der Tarifverhandlungen ist für die ÖTV, Pflegekräfte in die nächst höhere Gehaltsstufe einzugruppieren. Inzwischen liegt die Stimmung am Verhandlungstisch weit unter dem Gefrierpunkt. Proteste und Aktionen von seiten der Pflegekräfte scheinen keinen Eindruck hinterlassen zu haben. Allein in München sind im vergangenen Jahr knapp 10.000 Schwestern und Pfleger auf die Straße gegangen, um gegen die „unhaltbaren Zustände in den Krankenhäusern“ zu demonstrieren. Bundesweite Aktionen sollten verhindern, „daß der Pflegenotstand zur Pflegekatastrophe wird“. Doch Wiese gibt sich unbeeindruckt. „Heutzutage wird doch gegen alles Mögliche demonstriert“, der Protest habe keinerlei Grundlage. Sein Kollege am Verhandlungstisch, der Geschäftsführer des Verbands der kommunalen Arbeitgeber (VKA), Berger, hält sich zwar zurück, doch auch ihm scheint die Diskussion „fragwürdig“.

Die Fakten sprechen eine andere Sprache. Über 10.000 Überstunden sind es, die monatlich allein in den Berliner Krankenhäusern anfallen. Die BewerberInnenzahlen an den Krankenpflegeschulen gingen in den vergangenen Jahren um rund 80 Prozent zurück, die Fluktuation ist hoch. Alarmierend ist ebenfalls die kurze Verweildauer von höchstens fünf bis sechs Jahren im Pflegeberuf und ein Krankheitsstand von bis zu zehn Prozent. Um die Pflegesituation in den Krankenhäusern nachhaltig zu verbessern, fordert die ÖTV deshalb auch rund 60.000 zusätzliche Stellen. Denn, so ÖTV-Sprecher Hillgärtner, die Tarifverhandlungen, in denen es sich lediglich um höhere Löhne dreht, können nur die Spitze des Eisbergs „Pflegenotstand“ abtragen. Der Personalschlüssel müßte dringend angehoben werden.

VKA-Geschäftsführer Berger jedoch hält eine Anhebung der Stellen für unrealistisch, die Trumpfkarte hat er bereits gezückt: „Mehr Stellen und höhere Bezahlung, wie die ÖTV es fordert, würden fünf Milliarden Mark verschlingen. Als Konsequenz müßten die Krankenversicherungsbeiträge um vier Prozent steigen.“ Für Hillgärtner ist das kein Problem. „Für eine humane Pflege muß jeder Einzelne auch bereit sein, die Mehrkosten zu tragen.“

Die Versorgung der Kranken sei ein „gesellschaftspolitisches Problem“ und die Bevölkerung sei in den vergangenen Monaten wesentlich sensibler geworden für die schweren Arbeitsbedingungen der Schwestern und Pfleger. Deshalb erhofft sich Hillgärtner auch von seiten der Öffentlichkeit Druck auf die Verhandlungsbereitschaft der Arbeitgeber.