Umerziehung in Vietnam

■ Über einen Roman des nach einem Attentat schwer erkrankten vietnamesischen Schriftstellers Duyen Anh

Lek Hor Tan

La Colline de Fanta („Fantahügel“), ein in diesen Tagen in Paris erscheinender Roman von einem der berühmtesten vietnamesischen Schriftsteller, beruht auf realen Begebenheiten aus dem Vietnam der siebziger Jahre, wie sie von Jugendlichen erlebt wurden. Kurz nach dem Fall von Saigon, heute Ho-Chi-Minh-Stadt, und der Machtübernahme der Kommunisten im April 1975, wurden Beamte und Offiziere des früheren, amerikanisch gestützten Regimes aufgefordert, sich für eine zehntägige „politische Umerziehung“ bei den neuen Behörden zu melden. Duyen Anhs Roman beginnt mit der Meldung Nguyen Huus, eines früheren Lehrers, der zur Umerziehung am 14.Juni 1975 eingezogen worden war. Aber die Tage vergehen, und wie Tausende seiner Landsleute kommt auch Nguyen Huu nicht mehr nach Hause.

Nach zwei Monaten des Wartens gehen Mütter und Ehefrauen der Gefangenen zu den Meldebüros und verlangen Auskunft darüber, wo ihre Ehemänner und Söhne sind - unter ihnen auch Nguyen Huus Frau und zwei Töchter. Auch sie kommen abends nicht mehr heim. In der Stadt kursiert das Gerücht, die Frauen hätten eine Demonstration abgehalten und die „Bo Doi“, nordvietnamesische Soldaten, hätten auf sie geschossen. Vu, der dreizehnjährige Sohn Huus, ist um Mutter und Schwestern besorgt und sucht sie in den Straßen. Zusammen mit Tausenden von „Straßenkindern“, kleinen Dieben, Schuhputzern und Waisen, die aus religiös geführten Waisenhäusern „befreit“ worden sind, wird Vu von „Bo Doi“ aufgegriffen. Er versucht zu erklären, daß er kein „Straßenkind“ ist, daß er eine Familie und ein Zuhause hat aber vergeblich. „Die Revolution hat immer recht. Die 'Can Bo‘ (revolutionäre Kader) machen keine Fehler“, erklärt man ihm. Und als einer von 120 Kindern wird er zuerst in das Stadion von Saigon, dann ins Hauptgefängnis Chi Hoa gebracht. Später werden sie in ein „Umerziehungslager“ in die Nähe der früheren Grenze zu Nordvietnam transportiert.

Im Zuge der „Umerziehungspolitik durch Arbeit“ haben auch Kinder, ebenso wie Erwachsene, viele Jahre in Lagern verbringen müssen. Weder erfuhren sie je, welcher Verbrechen man sie angeklagt hat noch fand jemals ein Prozeß gegen sie statt. Von ihnen wurde verlangt, den Dschungel zu roden, Gemüse anzubauen, Brunnen und Latrinen zu graben und nebenbei den Lehren über die Tugenden einer neuen sozialistischen Gesellschaft zu lauschen.

Das Leben in den Lagern war sehr schwer. Die Kinder litten unter dauerndem Hunger. Manche schafften es, ihre Rationen mit wilden Früchten und Insekten aufzubessern, die sie bei Dschungeleinsätzen sammelten. Medizin gab es kaum und die Gefangenen mußten permanente körperliche und psychische Mißhandlungen durch das Lagerpersonal erdulden. Viele starben an Ruhr oder Malaria, andere auch durch explodierende Minen. Nur wenigen gelang die Flucht. An einem Abhang oberhalb des Lagers begrub man die Toten; ihre Namen, Geburts- und Todesdaten wurden auf einen Zettel geschrieben und in leere Fantaflaschen gesteckt; die Fantaflaschen bezeichneten die Gräber - daher auch der Titel des Romans.

Das Leben im Lager wird sehr detailliert beschrieben. Die „Straßenkinder“ kämpfen gegen ihre Wächter und gegeneinander. Aber es gibt auch Momente anrührender Zärtlichkeit und Freundschaft unter ihnen, besonders zwischen Vu, dem Taschendieb Mai und dem siebenjährigen Waisenkind Haye. Mai träumt davon, nach seiner Entlassung zusammen mit Vus Familie ein normales Leben zu leben; er stirbt im November 1979 an Malaria. Vu wird im Juni 1980 entlassen, nachdem die Behörden schließlich entdecken, daß seine Haft nur auf einem Irrtum beruhte. Vu ist inzwischen 18 Jahre alt und weiß nicht, ob seine Eltern noch leben, da er seit fünf Jahren keinen Kontakt mehr mit ihnen hat. Der Autor

Duyen Anh (Schriftstellername von Vu Mong Long) ist vor allem berühmt für seine Bücher über das Leben der Straßenkinder in Vietnam während der sechziger und siebziger Jahre. Sein Werk umfaßt etwa 50 Titel, darunter Romane, Kurzgeschichten, Essays und Gedichte. Er hat als Verleger und Zeitschriftenredakteur gearbeitet. Einige seiner Arbeiten wurden auch unter früheren Regierungen schon verboten. Sein Roman Herbstwolken ist von offizieller Seite in Nordvietnam einmal hochgelobt worden. Nach April 1975 jedoch wurden seine Bücher allesamt verboten - als „reaktionär und der sozialistischen Revolution abträglich“. Und seitdem galt er als „einer der zehn gefährlichsten Schriftsteller Südvietnams“.

Nach der Vereinigung der beiden Vietnam im April 1976 wurde Duyen Anh verhaftet. Wie Hunderte Schriftsteller und Künstler kam auch er ins Gefängnis und später in ein Umerziehungslager - ohne daß Anklage erhoben oder ein Prozeß gegen ihn geführt worden wäre. Dank der Kampagnen von Pen und amnesty international wurde er schließlich im September 1981 entlassen. Im März 1983 gelang ihm durch Bestechung von Beamten schließlich zusammen mit anderen „Boatpeople“ die Flucht auf einem Schiff. Nach acht Tagen auf See landeten sie in Pulau Bidong, einer kleinen malaysischen Insel, wo bereits ein Flüchtlingslager existierte. Im Oktober 1983 traf er endlich wieder mit seiner Familie zusammen, die schon vorher nach Paris gegangen war.

In Paris nahm er seine Arbeit als Schriftsteller und Journalist wieder auf und überarbeitete Manuskripte, die er in den zwei letzten Jahren geschrieben hatte. Die Gedichtsammlung Gedichte eines Gefangenen und der Roman Ein Russe in Saigon wurden bald darauf veröffentlicht. Die französische Übersetzung von Fantahügel erscheint, wie gesagt, in diesen Tagen (Edition Belfond).

Im Exil jedoch hat sich die Tragödie für Duyen Anh fortgesetzt. In den vergangenen Jahren hat er bei vielen vietnamesischen Emigranten heftiges Mißfallen erregt, da er sich nicht nur über den kommunistischen bürokratischen Apparat lustig machte, sondern auch über vietnamesische Ex -Generäle, die im Exil von der Entscheidungsschlacht gegen das kommunistische Regime träumen. Duyen Anh plädiert dagegen für eine kritische Zusammenarbeit mit der neuen Autorität in Vietnam, damit sich die Situation im Land selbst verbessern kann. Und er hat nachdrücklich für den Gedanken einer „dritten Kraft“, nämlich einer Machtbeteiligung zusammen mit den Kommunisten, geworben. Für viele streng antikommunistische Emigranten aus Vietnam, besonders in der großen kalifornischen Kolonie, sind Duyen Anhs Vorstellungen gleichbedeutend mit Verrat. Allmählich begannen Gerüchte ihre Runde zu machen, Anh sei „ein kommunistischer Agent, ein Spion und Verräter“.

Ende April 1988 besucht Duyen Anh Südkalifornien, um seine Bücher und Lieder vorzustellen. Am 30.April, dem 13.Jahrestag des kommunistischen Sieges über Südvietnam, fand eine Demonstration von etwa 150 antikommunistischen Emigranten in Orange County statt. Der 53jährige Schriftsteller war mit Freunden in einem nahegelegenen Restaurant. Als er es verließ, überfielen ihn vier vietnamesische Jugendliche, die anschließend in der Menge verschwanden. Duyen Anh hatte eine Gehirnblutung erlitten und blieb bewußtlos liegen.

Familie und Freunde des Schriftstellers stimmen darin überein, daß dies ein politisch motivierter Anschlag war, mit dem Ziel, Duyen Anh zum Schweigen zu bringen. In Kalifornien hatte es vor nicht allzu langer Zeit bereits zwei ähnliche Anschläge gegeben: Neun Monate zuvor war Pham Tap Van, Verleger der Zeitung 'Mai‘ in Garden Grove, durch eine Brandstiftung in seinem Büro ums Leben gekommen. Vor ihm war Duong Thong Lam, der ebenfalls eine vietnamesische Zeitung herausgibt, in San Fransisco ermordet worden. Für beide Morde hatte eine antikommunistische Geheimorganisation, die „Vietnames Organisation to Exterminate Communists and Restore the Nation“ (Vietnamesische Organisation zur Vernichtung von Kommunisten und Wiederherstellung der Nation), die Verantwortung übernommen.

Seit dem Überfall hat die Genesung Duyen Anhs nur sehr langsame Fortschritte gemacht: Er ist weiterhin halbseitig gelähmt und es ist unwahrscheinlich, daß er jemals wieder in den Vollbesitz seiner geistigen Kraft kommt. In Paris zirkulieren anonyme Briefe, die jeden bedrohen, der Duyen Anh oder seiner Familie Unterstützung gewährt.

David McAree, früher Mitarbeiter bei amnnesty international für Vietnam und Schwiegersohn des Schriftstellers, sagte nach diesem Anschlag: „Nach all den Jahren des Hungers und Krieges, nach Revolution, Gefängnis, Ächtung und ständiger Gefahr hätte Duyen Anh ein ruhiges Alter verdient gehabt. Aber ein Schriftsteller bleibt immer ein Schriftsteller und er hat immer das geschrieben, was er wollte, trotz des Risikos. Es sieht so aus, als würde er nie wieder schreiben können. Man hat ihn zum Schweigen gebracht.“