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Matthäus-Passion, halb und halb

■ Bremer Kompromißssuche für Bachs Bachs musikalisch-menschlichen Gewaltakt / Zwischen religiösem Bekenntnis und diesseitiger Dramatik entschied sich Domkantor Wolfgang Helbich für Wohlgefälligkeit

Ich stelle mir die Sache so vor: Könnte man die Identität von Leuten, ihre Prinzipien, Überzeugungen, das Grundinventar ihrer Haltungen nur weit genug abstrahieren von ihren alltäglichen Erfahrungen, man würde am Ende vielleicht auf einige wenige Grundatome jeder Seele stoßen, auf ein paar fundamentale Erfahrungen, aus denen sich Moral, Glauben, Grundüberzeugungen entwickeln. Gäbe es solche Grundstoffe der Seele tatsächlich - einen aus dem ich selbst im Innersten zusammengebaut wäre, wüßte ich. Es wäre die Matthäus-Passion. Und weiter naiv stelle ich mir vor: Vor einem richtig zuhörenden Publikum richtig aufgeführt, müßte die größere der beiden großen Bach-Passionen umstandslos ins je individuelle Seelen-Amalgam ihrer ZuhörerInnen eingebaut werden.

Nehmen wir Petrus. Der Mann hat Vorsätze. Noch beim Abendbrot schwört er Stein und Bein, auch in der Gefahr zu seinem Freund zu halten. Ein paar Stunden später sind alle guten Vorsätze im Eimer, in Todesangst hat der Mann dreimal gelogen. In der Matthäus-Passion läßt sich erfahren, wie auss anständigen Leuten Lügnern werden: „Und ging hinaus und weinete bitterlich“.

Oder Pilatus. Ein mächtiger Mann, ausgestattet mit allen Befugnissen des Kaisers, Herr über Leben und Tod und verheiratet mit einer Frau, die ihm Mut macht, Mut zu haben. Unverhofft gerät dieser Mann in eine höchst prekäre Lage. Er bekommt es mit einem zu tun, der möglicherweise die Autorität des Kaisers in Frage stellt. In einer Situation, wo die Machtverhältnisse militärisch längst geklärt scheinen, kommt da ein gewisser Jesus völlig unmilitärisch und behauptet unerhörtermaßen, ein König zu sein. Eine Frechheit, aber mit ihr ließe sich vielleicht fertig werden. Schwierig wird die Angelegenheit dadurch, daß Pilatus es auf der anderen Seite mit einer höchst aufgebrachten, aufgehetzten Masse zu tun bekommt. Die will Blut sehen. In der Matthäus-Passion läßt sich lernen, wie scheinbar mäch

tige und um Gerechtigkeit bemühte Leute im Handumdrehen zu Opportunisten werden. „Und überantwortete ihn, daß er gekreuzigt würde.“

Nehmen wir das Volk. Einfache Leute, einzeln und jeder für sich womöglich umgängliche, sympathische Zeitgenossen. Mit nur ein paar psychologischen Finessen wird aus diesen mutmaßlich liebenswürdigen Menschen ein barbarisch hysterischer Haufen mit buchstäblichem Heiden-Vergnügen an Lynch-Justiz. In der Matthäus-Passion läßt sich begreifen, wie sich dumpfer kollektiver Haß organsieren läßt und wie zuverlässig er funktioniert. „Laß ihn kreuzigen!“

Und schließlich Jesus. Man mag persönlich seine Zweifel haben, was es nun mit dem Fundament des Christentums eigentlich auf sich habe, der Fleischwerdung Gottes im eigenen Sohn. Wenn mir irgendwo Zweifel an meinen Zweifeln kommen, dann regelmäßig in der Matthäus Passion, wenn dieser Jesus am Tag vor der eigen Hinrichtung noch mal anfragt, ob das denn wirklich sein müsse mit der Kreuzigung. Und es klingt auch verdammt menschlich, wenn einer da im Angesicht des Todes traurig Abschied nimmt vom letzten Glas

Wein: „Eli, Eli lama asabthani.“

Wobei es eben auch immer und gleichzeitig sehr göttlich zugeht. Schließlich, als es zu spät ist, steht auch das Volk völlig verdattert vor seinem mörderischen Irrtum: „Wahrlich, wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen.“ Bei der Matthäus -Passion können selbst hartgesottene Atheisten Zeifel an ihrem Un-Glauben bekommen.

Vorausgesetzt all das wird während ihrer Aufführung auch hörbar. Man müßte den giftigen Hohn des „Gegrüßet seist Du, Judenkönig“ hören können, die brutale Hysterie des „Barabam“, die Verlogenheit bestochener Zeugen, die Verstörtheit plötzlicher Erkenntnis, die scheinheilige Verachtung des Geldes, die tiefe Melancholie, die einen bei seinem letzten Glas Wein überkommt usw.

Eine solche Interpretation war im Bremer Dom am Karfreitag nicht zu hören. Dom-Kantor Wolfgang Helbich suchte stattdessen Kompromisse, die sich vor allem an drei Prinzipien orientierten: Am Wohlklang, am nur mäßig beeinflußbaren Publikumsgeschmack und an den technisch und finanziell verfügbaren Ressourcen. Heraus kam eine sehr schöne, aber sehr wenig aufregende Matthäus-Passion mit mittleren Tempi, mittleren Dynamik-Sprüngen mitten zwischen allen Extremen. Ein Balance-Akt zwischen sakral -großflächiger Opulenz und historisierender Wiederentdeckung musikalischer Gestik. Helbich wählte einen großen und gemischten Chor, weil er ihn hatte, und verpflichtete zwei Instrumental-Ensemble mit historischen Instrumenten. Helbich besetzte die Frauenstimmen mit einem männlichen Alt und einem weiblichen Sopran - übrigens nicht nur aus Gründen mangelnder Konsequenz die schwächste Besetzungsentscheidung. Er mutete dem insgesamt ausgezeichneten Wilfried Jochens nicht nur die Evangelisten-Partie zu, sondern auch die Tenor -Arien, ohne ihm gleichzeitig eine strikte unterscheidung der beiden Rollen zuzumuten: Jochens riskierte hier wie dort ein ein lyrisch-anteilnehmendes Esressivo, statt strikt zu trennen zwischen reflexiv-kom

mentierender Arie und auf Textverständlichkeit bedachter Erzähler-Rolle. Ähnlich widersprüchlich die Auffassung der Chöre: Eher unsentimental schlicht als überbordend schwelgerisch in den Chorälen, dafür in den turbae im Zeifelsfalls jede einkomponierte Dissonanz zugunsten eingängiger Gefälligkeit opfernd, trieb Helbich den Polen, zwischen denen sich seine Interpretatation bewegte, sozusagen gleichzeitig die Extreme aus: Den Ramins und Richters den gefühligen Kitsch, den Harnoncourts die dramatische Radikalität. Was er damit auch zugunsten einer aufgeklärt-eklektischen, sorgfältig gearbeiteten und aufmerksam aufgeführten Karfreitags-Musik opferte, war eine musikalisch-theologische Grundüberzeugung, die die beiden noch immer konkurrierender Interpretations

Ansätze der Matthäus-Passion je noch haben: Man kann die Matthäus-Passion als tiefstes persönliches Bekenntnis des eigenen Glaubens in einer Form inszenieren, daß sie selbst wenig religiöse Menschen rührt und berührt. Man kann sie auch als ein Kaldeidoskop menschlicher Verhaltensweisen auffassen, ihren fürchterlichsten und barbarischsten, edelsten und freundlichsten, traurigsten und erschütterndsten Varianten. Wolfgang Helbich wollte dies offenkundig nicht. Er wollte sich Rechenschaft ablegen über den eigenen musiktheoretischen Standort auf einer Orientierungsfahrt durch die produktiv durcheinandergeratenen Aufführungsmöglichkeiten des größten musikalischen Sakral-Werks abendländischer Geschichte. Das ist ihm überzeugend gelungen.

K.S.

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