: Eine Katastrophe, die nicht enden will
Zehn Jahre danach leben die Anwohner von Three Mile Island weiter mit der Bedrohung / Der verseuchte Reaktor ist erst teilweise entsorgt, der zweite Reaktor ist wieder in Betrieb / Nur in außergerichtlichen Vergleichen haben die Betreiber Entschädigungen gezahlt, eine Gesundheitsgefährdung ist nie anerkannt worden ■ Von Gerhard Amendt
Unter der Leitung von „Three Mile Island Alert“ (Three-Mile -Island-Alarm), einer mit den Jahren sichtbar geschrumpften Aktivistengruppe von AtomkraftwerksgegnerInnen, begeht Harrisburg, zwei Fahrstunden von Washington DC entfernt, heute die zehnte Wiederkehr des Unfalls von 1979. Einer von zwei Reaktoren auf der AKW-Insel Three Mile Island - mitten im Susquehanna-Fluß drohte zu schmelzen und zu bersten. Ausgangspunkt der Katastrophe war die Nachlässigkeit der Techniker und ein Management, das die Aktivitätswerte unkontrolliert austretenden Kühlwassers gefälscht hatte, um der Abschaltung durch die Atomaufsichtsbehörde NRC zu entgehen.
Keine der vor einem Jahrzehnt entstandenen Altlasten ist bis heute abgetragen. Die Betreiberfirma von Three Mile Island, General Public Utilities (GPU), hat Techniker der westlichen Atomnationen eingeladen - gegen „Lehrgeld“ in Millionenhöhe -, das „Saubermachen“ vor Ort zu lernen. Nur Japan hat das Angebot angenommen. Seine Techniker dürfen die Neuentwicklungen auf dem Gebiet der „Clean-up„-Technologien für eigene Katastrophen der Zukunft mit nach Hause nehmen. Im Gegensatz zur Automobilindustrie hatte die Atomindustrie für ihr Modell zuvor keine Reparaturtechniken entwickelt.
Der Pressesprecher der Betreiberfirma GPU, Bedell, meint beschwichtigend, daß das verseuchte Wasser, das das Unternehmen ursprünglich aus riesigen Zwischenlagern einfach in den Susquehanna einlassen wollte, sauberer sei als das Wasser im Fluß: mit dem Unterschied, daß es eben Tritium, ein Isotop des Wasserstoffs, enthalte. Weil die Menschen flußabwärts ihr Trinkwasser aber dem Fluß entnehmen, habe die Betreiberfirma auf die „unbegründeten Ängste“ der Bürger Rücksicht genommen. Statt in den Fluß soll das radioaktive Wasser über einen Zeitraum von mehreren Jahren verdampft und in die Atmosphäre abgelassen werden. Auch das wollen die Bürger nicht. Obwohl die freiwerdende Radioaktivität - in den Worten des Pressesprechers - „nicht höher ist als einige zusätzliche Stunden Bestrahlung aus der natürlichen Umwelt“.
Angst als Politikum
Der Begriff der Angst ist in Harrisburg ein Politikum. Die Auseinandersetzung dreht sich um die Frage, ob Ängste realen Bedrohungen entsprechen oder ob es sich nur um „menschliche Unzulänglichkeiten“ handelt, die menschliche Unfähigkeit also, sich den mit der Technisierung gestiegenen Anforderungen an das Leben anzupassen. Die sozialdarwinistische Forderung des „Survival of the Fittest“ wird diskutiert.
Tatsächlich lassen sich reale äußere und phantasierte innere Ängste weder in Middletown, Goldsboro, Elisabethtown noch in Harrisburg trennen. Sie gehören zusammen. Es ist nicht die individuelle Verrücktheit der Bürger, sondern die organisierte Politik der Betreiber, der Bundesgesundheitsbehörden und der Atomkontrollbehörde NRC, die verrückt machen: Sie haben Pflanzen mit Größen-, Farb und Formmutationen, Kadaver von totgeborenen und deformierten Kälbern und Katzen und Bodenproben zwar untersucht. Aber sie haben ihre Laborergebnisse geheimgehalten und die langjährigen Beobachtungen von Bauern zu Verrücktheiten erklärt. Sie haben Gefahren bestätigt, aber die Beweise als irrelevant abgetan - als hysterisch. Damit wurde den Menschen ein auf Vernunft und Erfahrung gegründetes Verhältnis zu politischen und naturhaften Lebensbedingungen schwerer gemacht.
Ich habe mit Jugendlichen gesprochen, die 1979 Kleinkinder waren. Sie zeigen noch immer Zeichen des unfaßbaren Traumas der tödlichen Bedrohung; vergleichbar den Überlebenden von Naturkatastrophen oder Konzentrationslagern.
Gesundheit ist den Amerikanern ein wertvolles Gut. Ein Atomunfall mit handgreiflichen Gesundheitsschäden hätte Legitimationsprobleme und endlose Schadenersatzklagen zur Folge gehabt. Tausende solcher Prozesse stehen in Harrisburg noch aus. Deshalb durfte es keine offiziell anerkannte Strahlenfreisetzung geben. An einige Geschädigte - vor allem Kinder mit Downsyndrom (Mongolismus) - wurden jedoch in außergerichtlichen Vergleichen Millionenbeträge gezahlt. Mit der Auflage allerdings, daß die Eltern sich nicht mehr öffentlich zum Schicksal ihrer Kinder äußern. So sind es heute die Großeltern, die zu ihren behinderten Enkeln vor Fernsehkameras und Mikrophonen Stellung beziehen.
Im Urin von Betroffenen stellte die Militäruniversität von Baltimore noch drei Jahre nach dem Unfall erhöhte Radioaktivität fest. Als Hinderungsgrund für die Wiedereröffnung des zweiten Reaktors reichten diese Nachweise wie auch die Zweidrittelmehrheit einer Volksbefragung nicht. Nach amerikanischem Recht ist nicht der Mensch, sondern nur die Unverträglichkeit für Wasser, Boden und Luft ein rechtsrelevanter Einwand gegen den Atombetrieb. 1985 ging der zweite Reaktor wieder in Betrieb.
„Keine Radioaktivität ausgetreten“
Daniel Collins, Psychologe und Oberst bei der Air Force, arbeitet an der Uniformed Services University of the Health Sciences (USUHS) an der Entwicklung von Überlebensstrategien für Strahlengeschädigte. Collins ist ein sensibler Mann. Er bedauert das Unglück von Tschernobyl. Nicht nur wegen der Menschen, sondern weil auch die militärische Nutzung der Atomenergie weltweit beeinträchtigt wurde.
Nach den Feststellungen des Untersuchungsausschusses des Präsidenten Jimmy Carter im Jahre 1979 ist keine Radioaktivität aus dem Reaktor ausgetreten. Folglich kann es Strahlenschäden nicht geben. Das ist die offizielle Linie, der Betreiber, Versicherungen und Atomlobby folgen. Über die Jahre wußte niemand, welches Ausmaß die Kernschmelze hatte. Über einhundert private und öffentliche Schätzungen wurden gezählt. Nach letzten Erkenntnissen schmolzen weit über 50 Prozent des Kernmaterials auf. Die Strahlung konnte keineswegs im Reaktorgebäude eingefangen werden. So berichten die Menschen in der Umgebung über ungewöhnlich viele Krebsfälle. Das Ehepaar Norman und Marjorie Aamodt führte eine eigene Studie in 450 Haushalten durch. Statt der statistisch erwarteten drei Fälle von Krebstoten fanden die Eheleute 20. Die Gesundheitsbehörde veranlaßte eine eigene Studie, um die Aamodtschen Ergebnisse zu „korrigieren“. Schließlich „senkte“ man die Krebsrate um Three Mile Island, indem die Todesfälle ganz einfach auf eine größere Bevölkerungszahl bezogen wurden.
Die Opfer sind forschungsmüde geworden
Das Problem der langfristigen Wirkung von Niedrigstrahlung wird als Gefährdungsquelle von offiziellen Untersuchungen ignoriert. Ernest Sternglass, emeritierter Professor für Radiologie an der Universität Pittsburgh und ehemaliger Mitarbeiter in der US-Atomindustrie, hat auf die Kinder- und Alterssterblichkeit als Folge von Niedrigstrahlung sowohl um Three Mile Island wie auch als Folge von Atomversuchen in den sechziger Jahren hingewiesen. Sternglass bezweifelt, daß nur hohe Strahlendosen über kurze Zeit zu Schäden führen. Er hält der offiziellen Strahlengefährdungstheorie entgegen, daß die Niedrigstrahlung über längere Zeit ungleich größere Verheerungen im menschlichen Organismus auslöst als die kurzfristige Hochdosisbelastung (im Unglücksreaktor zeigten die Meßgeräte über acht Stunden Strahlungen bis 1.000 Rem, nicht Millirem).
Viele dieser Informationen tauchen in den nationalen Fernsehnachrichten und der lokalen Presse auf. Aber das scheint auch der Tod brisanter Nachrichten zu sein. Was einmal veröffentlicht ist, hat offenbar seine Gefährlichkeit eingebüßt, so als wäre das gesellschaftlich Zugelassene auch das Ungefährliche, weil es Teil des anerkannten Systems zwischen Talk-Shows und Soap-Operas geworden ist.
Schon vor Eröffnung der beiden Atomreaktoren auf Three Mile Island war „TMI Alert“ aktiv. Die Gruppe sammelte Nachrichten über mögliche Gefährdungen von Menschen und Natur. Sie arbeitet auch heute noch, obwohl das Interesse merklich nachgelassen hat. Viele Aktivisten haben die Region verlassen, weil sie die Konfrontation mit dem strahlenden Atomschrott und der ungelösten Entsorgung wenige Meter von ihren Wohnungen entfernt psychisch nicht mehr aushalten konnten. Andere „TMI Alert„-Mitglieder, die geblieben sind, haben Karriere gemacht. Der damalige Vertreter Pennsylvaniens im Repräsentantenhaus, Steven R.Reed, ist heute Bürgermeister der Regierungshauptstadt Harrisburg. Er spricht offen von einer Verschwörung der Atomlobby und der Bundesregierung. Ihr Ziel sei es, die Gesundheitsschäden zu verheimlichen, auf die zum beispiel Prof.Sternglass und das Ehepaar Aamodt mit ihren Krebsstudien hingewiesen haben.
Die Region um Three Mile Island ist sicher eine der gut erforschten Communities der USA. Aber die Bürger sind forschungsmüde geworden von den Umfragen, die schriftlich oder übers Telefon durchgeführt werden. In aller Regel dienen die Forschungsergebnisse dazu, die Gefahren der Atomenergie zu minimisieren. Sie halfen den Menschen vor Ort nur wenig.
Zu den Wissenschaftlern um „TMI Alert“ gehört auch der Gemeinde- und Sozialpsychologe R.W.Colman von der Pennsylvania State University. Sein Engagement hat ihn nicht den Arbeitsplatz gekostet, im Gegensatz zu Wissenschaftlern, die sich zu atomphysikalischen Aspekten der Katastrophe äußerten. Colman konstatiert eine Glaubwürdigkeitskrise des demokratischen Systems. Das scheint weniger brisant als eine ökologisch oder technologisch begründete Problematisierung des technologischen Fortschrittsideals. Colman meint, daß die Menschen der Region als Folge der hauptsächlich mit Gutachten geführten Auseinandersetzung des zweiten Reaktors ein kritischeres Verhältnis zu den Natur- und technischen Wissenschaften gewonnen haben. Traditionell sind das in den USA die Wissenschaften, die mit dem Gedanken des Fortschritts und der nationalen Größe in Verbindung gebracht werden. Doch die Gutachter dieser Disziplinen folgten offenkundig der Trivialität: „Wes Brot ich eß‘, des‘ Lied ich sing.“
Das Mißtrauen ist gestiegen
Der fundamentalistische „Bibelgürtel“, zu dem Pennsylvanien zählt, ist nicht nur durch Gottesfürchtigkeit, sondern auch durch ihre weltliche Entsprechung, die Autoritätshörigkeit, geprägt. Durch den Autoritätsverlust nach der Katastrophe sind dort keine Massenorganisationen entstanden, nicht einmal lebensfähige Bewegungen, deren Protest auf ein Thema gerichtet ist. Ein Ergebnis der zehnjährigen Auseinandersetzung über Three Mile Island ist jedoch der Einbruch dieser Hörigkeit gegenüber den Autoritäten und der Wissenschaft sowie das Ende der Sorglosigkeit gegenüber der Umwelt. Wer heute in der Region sein Einfamilienhaus baut, läßt seinen Brunnen nach Giftablagerungen untersuchen. So kam heraus, daß ein stillgelegtes Marinedepot aus den vierziger Jahren - der heutige Flughafen Harrisburg - das Trinkwasser mit hochgiftigen Substanzen verseucht.
Eines haben die Menschen über die Jahre begriffen: Es gehört zu den Besonderheiten von technologischen Katastrophen, daß sie nicht enden. Flutkatastrophen haben ein Ende, dann folgen die Aufräumarbeiten. Auch die Trauer kommt zu ihrem Ende. Technologische Katastrophen hingegen haben eine eigene Dialektik. Das Aufräumen - euphemistisch „clean up“ genannt - verlagert das strahlende Elend aus dem Reaktorinneren nach außen. Die Aufräumung wird damit zur Wiederholung der ursprünglichen Katastrophe in immer neuen Auflagen. Sie ist Anlaß, auch in Zukunft Angst haben zu müssen.
Dr. Gerhard Amendt ist Professor für Soziologie an der Universität Bremen
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