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Der Skandal namens Mensch

■ Heinz-Georg Kuttner im Gespräch mit dem Schriftsteller Bernd Mattheus

Bernd Mattheus (35) hat große Biographien von Antonin Artaud und Georges Bataille verfaßt, seine essayistischen Aufzeichnungen und Notizen (in bisher vier Büchern, alle Verlag Matthes & Seitz) wurden von der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen. Im folgenden Auszüge aus einem längeren Gespräch, das Heinz-Georg Kuttner mit dem Autor führte.

Heinz-Georg Kuttner: Sie sagen in der Anthologie „Inseln im Ich. Ein Buch der Wünsche“, daß Schreiben heißt: „sagen, daß man nichts ist und deshalb leidet, unter einem bewußtsein leidet, welches das unmögliche will“. Als Ziel Ihres Bemühens sehe ich es an, sich von Fragen des Warum, des Wie, des Weshalb, vom Zirkelschlußdenken zu lösen und den Mut aufzubringen, sich seinen Sinn selber zu machen. Wie Fernando Pessoa einmal bemerkte, hieße das, daß Schreiben Vergessen bedeutet. Sie selbst schreiben in Ihren Notizen „Die Augen öffnen sich im Unklaren und schließen sich im Verdunkelten“: „ich lebe nicht mehr im oder mit dem gestern noch auf ein morgen zu, sondern im hier und jetzt, indem ich versuche, das erinnern durch das vergessen zu ersetzen, und außerdem die erwartung suspendiere.“ Der Autor verschwindet im Werk? Er verhindert eine Identifizierung durch Pseudonyme wie es Pessoa, Bataille und Sie selbst getan haben.

Bernd Mattheus: Richtig. Aber teils aus taktischen Gründen, z.B. Elena Kapralik, um mich nicht als Artaud-Spezialist zu konstituieren, teils aus Lust, Verwirrung zu stiften. Ich glaube, niemand könnte schreiben, der auf dem Erwachsenenstandpunkt steht: „Ich bin geschäftstüchtig, und es gibt die harte Realität, der man sich beugen muß.“ Derjenige, der nicht spielt, kann nicht schreiben. Auf der anderen Seite fällt das Werk, das man geschrieben hat, auf einen selbst zurück. Es kommt höchstens für zehn Sekunden einmal ein Hochgefühl auf. Wenn ein Buch veröffentlicht ist, dann kursiert es. Es ist auch keine therapeutische Übung des Verschwindens von sich selbst. Bei mir verhält es sich eher so bei den biographischen Werken über Artaud und Bataille. Jemand, der erfüllt von sich selbst ist, der kann so eine Arbeit nicht machen. Voraussetzung ist, daß man versucht, sich in den Autor zu versetzen, dies hängt mit Emphatie zusammen. Man muß sich in einen Menschen versetzen, der 1896 geboren worden ist, dann zu schreiben begann, bestimmten Aktivitäten nachging etc. Die Gefahr besteht, daß man als Hagiograph, als Verherrlicher, als Jünger stigmatisiert wird. Es wurde mir bei Artaud vorgehalten, „du ähnelst dich dem Artaud an“.

Wie kommt es zu einer Auswahl, zu einer Vorliebe für bestimmte Autoren?

Es gibt eine Wechselbeziehung zwischen Interesse und dem, wofür man sensibilisiert ist. Ein Autor wie auch ein Regisseur sieht mit anderen Augen, mit den Augen einer freischwebenden Sensibilität im Sinne einer Steigerung. Es gibt keine Möglichkeit, von außen Anregungen zu erhalten. Dies ist eine Täuschung.

Mein Eindruck ist, daß in Ihren biographischen Arbeiten eine gewisse Nüchternheit vorherrschend ist. Diese Distanz dient sicherlich zur Vermeidung des Eindrucks, den jeweiligen Autor, über den man eine Biographie schreibt, zu verherrlichen, zu vergöttlichen, zu bewundern. Von daher verstehe ich nicht, wieso manche Kritiker der Auffassung sein konnten, Sie wollten Artaud, Bataille, Nietzsche sein.

Bei Artaud trifft dies wohl eher zu, dieses Moment der Identifikation. Es war von vornherein nicht als eine akademische Arbeit angelegt, es hatte eine polemische Ausrichtung gehabt gegen die Stigmatisierung Artauds zum Wahnsinnigen, zum nicht ernst zu nehmenden Künstler und Literaten.

Nun, das war der Anlaß für das Schreiben der Biographie von Artaud. Was war denn der Anlaß zum Schreiben selber? Was war das Motiv, aus dem beruflichen Leben auszusteigen und freier Schriftsteller zu werden? Freunde, mit denen Sie eine Zeitschrift gründeten? Die 68er Bewegung?

Ich hatte natürlich Kontakte zur alternativen Kultur, hatte Freunde, mit denen ich über Literatur diskutierte. Der Grund, warum man schreibt, ist immer die eigene Unzufriedenheit. Ausgangspunkt ist nicht das Staunen, sondern die Verzweiflung: der Wunsch, angesichts des universellen Geschwätzes Schweigen zu gebieten.

Wessen Geschwätz?

Das von den Zeitungen, den audivisuellen Medien verbreitete, auch das der Berufsdenker, die nur noch Sterilitäten absondern.

Die absolute Freiheit, die absolute Souveränität ist identisch mit dem Tod. Für de Sade ist die Geschichte die Leere, schreibt Maurice Blanchot, die sich verwirklichende Leere. In der Revolution erhebt die Freiheit den Anspruch in der unmittelbaren Form des „Alles ist möglich“. Alles kann geschehen, alles kann verwirklicht werden. Glaube, Staat, Jenseits, Vergangenheit verwinden ins Nichts. Und das ist nach Blanchot die Geburtsstunde der modernen Poesie, der modernen Literatur: der Tod Gottes als Bedingung der Möglichkeit von Literatur, absoluter Freiheit, absoluter Souveränität. Die Sprache der Literatur ist die Suche des Augenblicks, der ihr vorausliegt: nichts sagen, sprechen, um nichts zu sagen. Würden Sie das auch so sehen?

Natürlich ist es richtig, man konnte nur frei sein, nachdem man sich von dem Überich befreit hatte: von Gott. Das ist die eine Seite. Aber die andere Seite, die Georges Bataille klar sah und der sich hier der Kunstauffassung Blanchots anschließt, ist, daß, nachdem man ganz konkret Gott 1789 geopfert hat, die Emanzipation, die Souveränität möglich wurden. Aber was machen wir nun mit dieser Bodenlosigkeit?

Der Tod Gottes ist ein Motiv, kreativ zu arbeiten, dies hatte etwas Reinigendes für die Musik, die Literatur, die bildenden Künste. Wenn überhaupt Emanzipation möglich ist, dann in der Kunst, sowohl in der Erzeugung als auch in der Rezeption.

Die Romantik als Versuch der Emanzipation im Bereich der Kunst intendierte vor allem, Identifikationen subversiv zu unterlaufen, versuchte, uns von Festlegungen zu befreien. Mir scheint eher, daß Sie wie Cioran nicht faszinieren, nicht romantisieren wollen, sondern eher an der Einübung in Entfaszination interessiert sind?

Es gibt bei Cioran einen ausgeprägten Skeptizismus, und manche Leute sagen, der Skeptizismus sei ein Unterwegs, und was kann am Ziel stehen, dort kann nur die Mystik stehen, das ist eindeutig. Das ist ein Punkt, wo er sich wendet und dreht.

Nun könnte ich noch einmal an Blanchots These anknüpfen, daß der Tod Gottes die Bedingung der Möglichkeit der modernen Literatur sei. Ähnlich geht es ja auch Georges Bataille in Die Literatur und das Böse darum, zu zeigen, daß das Böse die Ablösung von jeglichen jenseitigen oder diesseitigen Heilsversprechen sei. Die absolute Souveränität der Literatur besteht darin, niemandem sich unterzuordnen, sich ganz von der Sorge um die Zukunft befreit zu haben, sich ganz von jeglichem Heilsversprechen gelöst zu haben. Sehe ich das so richtig?

Im Prinzip sind wir nicht weiter gekommen als die Buddhisten. Wir stehen vor einer tabula rasa. Was de Sade gemacht hatte, ist eigentlich nur, daß er behauptet, das Lustprinzip sei der einzige Wert: soviel Lust zu empfangen, wie es gibt und soviel Lust geben wie es gibt. Jeder sagt bis zum Risiko des Todes Ja zur Lust, unter welchen Umständen auch immer. Wenn wir umgebracht werden oder uns selbst umbringen, dann gehört das eben zu diesem Spiel dazu. De Sade sieht klar, daß der Libertin überhaupt Schwierigkeiten hat, das Böse noch zu definieren, weil ja alles in diesen Grenzen des Lustprinzips gestattet ist. Ein Mord ist dann kein Verbrechen mehr. An einer Stelle hat er ganz materialistisch bekräftigt, er könne die Welt in die Luft sprengen. Er bezog Lust aus dieser Vorstellung, daß er imstande wäre, dies - in seiner Eigenschaft als Schriftsteller - nach seinem Tod bewirken zu können. Das sind kleine Augenblicke der Lust. Wie kann ich, wenn ich schlafe oder tot bin, der Welt noch Böses antun? Es sind Reaktivierungen von Lust in kleinen Augenblicken der Weltgeschichte. Ähnlich der Superterrorist.

Es ist erstaunlich, daß man, nachdem Sie sechs Bücher veröffentlicht haben, noch sehr wenig über Sie weiß. Da Sie vor allem auf die Kommunikation von Text und Leser vertrauen, ist um so befremdlicher, daß Ihr Werk totgeschwiegen wird. In keiner Tageszeitung oder Wochenzeitung erschien eine Rezension Ihres 1986 im Verlag Matthes & Seitz erschinenen Buches Heftige Stille.

Dies beruht zum Teil auf einer Option: der nämlich, daß sich der Autor hinter dem Werk zurückziehen, hinter das Werk zurücktreten sollte. Ich gehe davon aus, daß das Werk das Wesentliche sagt. Von daher entschied ich mich dazu, keine Lesungen zu machen, an keinen Symposien teilzunehmen. Kein Autor kann nachträglich das Wesentliche sagen. Andernfalls ist er gescheitert. Die andere Option besteht darin, nicht die Lektürebedürfnisse von Berufskritikern erfüllen zu wollen.

Nun, es ist sicherlich richtig, daß von der Mehrheit der Literaturkritiker und auch der Literaturwissenschaftler das Vorurteil genährt wird, Aphorismen und tagebuchartige Notizen seien ein Randphänomen. Das Sich-Wenden gegen Festlegungen, gegen Identifizierungen wurde von einem Literaturkritiker in den 'Nürnberger Nachrichten‘ als das 200 Jahre alte Mißverständnis der Intellektuellen angesehen, dem Sie erlegen seien, sich als Opfer der anderen, der Gesellschaft anzusehen. Würden Sie sich als Opfer ansehen?

Ich betrachte diese Kritik als eine vehemente Reaktion auf eine Form, die radikal ist, da sie Fragment ist. Was wir heute an Literatur der Zeitgenossen haben, ist eine Literatur, die immer zurückfällt hinter die Errungenschaften eines James Joyce, Marcel Proust, Gertrude Stein, Antonin Artaud. Es ist eine anachronistische Literatur, die heute die Szenerie bestimmt. Dadurch werden auch bestimmte Lesegewohnheiten erzeugt. Jede Literatur, die diese Möglichkeit aufgreift, wird heute bekämpft. Andererseits bestätigt mich das, insofern meine Notizen eine Form der Radikalität sind, sonst gäbe es nicht diese negativen Urteile oder das Ignorieren.

Das subversive Unterlaufen von Genres irritiert die Kritiker wie auch die Leser, weil die Texte nicht eindeutig einstufbar sind. Irritation wird erzeugt. Drama, Erzählungen, Gedichte sind festgelegte Formen. Ähnlich wie bei Bataille ist die Rezeption Ihrer Werke schwierig, weil sie gerade nicht eindeutig etikettierbar sind. Glauben Sie nicht auch, daß es für den Leser anstrengender ist, fragmentarisch geschriebene Notizen zu lesen, als eine Erzählung beispielsweise?

Ich fand es faszinierend, Bataille zu lesen, ohne ihn zu verstehen. Denn der Effekt springt in dem Augenblick über, wo Bataille von Ekstase spricht. Diese Erfahrung des Außersichseins ist vermittelbar. Es ist nicht Bataille, es ist ein anonymes Subjekt, das eine extreme Erfahrung macht, und das kann ich nachempfinden. Ohne Vorkenntnisse habe ich die Texte von Bataille als eine sehr erregende Lektüre verschlungen. Ich bin ohne irgendwelche philosophische Ambitionen daran gegangen. Ich glaube, die innere Erfahrung ist übertragbar. Ich hatte einmal einen Clochard zu Gast hier, er verdiente sich sein Brot als Pflastermaler, der hat das Buch gesehen, den Titel gelesen und sagte, das muß bestimmt sehr interessant sein. Er war kein Akademiker, nichts davon. Bataille selbst betrachtete seine Haltung nie als die der Wissenschaft. Und diese Absicht bestätigte sich beim Besuch dieses Clochards.

Es war ja eine klare Entscheidung von Ihnen, nicht in traditionellen Genres zu schreiben und zu denken, sondern sich davon abzugrenzen, bewußt das Fragmentarische gewählt zu haben. Das hängt meines Erachtens mit einem höheren Reflexionsniveau zusammen. Das Fragmentarische gibt es bei den französischen Moralisten, dann bei Leon Bloy, Jules Renard, Paul Leautaud, Cioran und Bataille, bei Lichtenberg, Nietzsche, Wittgenstein, Kierkegaard, Musil, Ernst Jünger. Ich glaube, daß es schon immer schwierig war, ein solches Genre zu rezipieren. Die fragmentarischen Gedanken - in chronologischer Reihenfolge - ermöglichen es dem Leser nicht, ein eindeutiges Thema, eine eindeutige Haltung festzumachen. Es kann deshalb nicht überraschen, daß Ihre tagebuchartigen Notizen auf wenig Resonanz stoßen. Dieses Genre hatte schon immer wenig Leser.

Das trifft zu. Auf der anderen Seite zeigt sich, daß diese Autoren auch noch für uns heute Aktualität besitzen. Wenn ich Montaigne heute noch lese, fühle ich mich präsent, noch gegenwärtig: Zum Beispiel hat sich die Problematik, auch nur einen Tag allein im Zimmer zu verbringen, nichts an Aktualität eingebüßt. Nur, man hat heute andere Möglichkeiten der Ablenkung: Fernsehen, Video, Kino, Radio, Zeitungen, Zeitschriften. Es hat sich nichts seit Jahrhunderten geändert.

Es ist sicherlich aus der Luft gegriffen, wenn man Ihnen vorhält, Sie würden nicht Bezug auf konkrete Situationen heute lebender und handelnder Menschen nehmen. Aber die Form ist unabhängig von den dargestellten Situationen. Sie beziehen sich auf grundlegende menschliche Erfahrungen, die unabhängig davon sind, ob Fernsehgeräte, Telefone, Schallplatten etc. existieren oder nicht - wie z.B. das Bewußtsein des Todes, das Bewußtsein um die eigene Sterblichkeit.

Es ist ein Versuch. Im Grunde interessieren mich ja nur die Menschen, die hier gerade herumkriechen oder aufrecht gehen, was sie aus sich machen. Mich interessiert, ob sie souverän sind oder nicht, und vor allem, welches Verhältnis sie zu ihrem Tod haben. Leben sie so in den Tag, als lebten sie wenig, oder leben sie so, daß man spürt, daß sie als Sterbliche leben. Entscheidend ist das Verhältnis zum Tod. Die Todesperspektive ist etwas ganz anderes.

Dann würde ich fast meinen, daß die Ignorierung Ihrer Werke aufs engste damit zusammenhängt, daß das Hauptbestreben der heutigen Zivilisation und der heute lebenden Menschen darin besteht, den Tod zu ignorieren, ihn beiseite zu schieben, zu verdrängen, nicht wahrzunehmen. Die Spannung zwischen der Immanenz und der Transzendenz, zwischen dem Bereich des Profannen und des Heiligen, zwischen dem Alltäglichen und dem Außeralltäglichen führt zu einer „Eindimensionalität“, die Ihre Schriften zum Schweigen verurteilt, die von dem Bezug auf die Todesperspektive leben und von dieser her geschrieben sind.

Es ist ein Abschneiden der Spitze. Man möchte ein Kontinuum. Und das ist nicht einmal in riesige Hierarchien gegliedert wie die Erste, Zweite, Dritte Welt. Nein. Es ist unsere Welt, in der wir leben. Wenn ein Machtmensch mir begegnet, der nur an Erhalt und Vermehrung des Eigentums interessiert ist, der an der Durchsetzung und ans Vorantreiben seiner Interessen bemüht ist, dann frage ich mich, welche Welten liegen zwischen ihm und mir. Einem Machtmenschen etwas von der Todesperspektive, von der Souveränität zu erzählen, setzt einen der Lächerlichkeit preis. Man wird nicht gehört. Es ist ungeheuerlich, wie einem ein Machtmensch begegnet. Es ist etwas ganz anderes, wenn Ihnen ein Sympathisant oder Gleicher begegnet. Ein Machtmensch tritt Ihnen in einer Art entgegen, daß ihm gegenüber nur übrig bleibt, bestimmte Taktiken zu entwickeln. Man kann einen Machtmenschen in die Enge treiben. Aber Macht ist Macht. Man kann ihn vielleicht dadurch beschämen, daß man sagt: „Mein lieber Freund, weiß du, was Souveränität ist?“ Ein souveräner Mensch kann sich sein Leben so gestalten, wie er will. Er ist nicht auf die Beschaffung von Mehrwert und Besitz aus.

Worin sehen Sie den Hauptunterschied zwischen der Souveränität und der Autonomie, zwischen dem souveränen und dem autonomen Menschen?

Entscheidend ist die Verausgabung, nicht einmal die Verausgabung materieller Güter, als vielmehr die Verausgabung psychischer Energien, d.h. die rückhaltlose Verausgabung verunmöglicht es, noch mit einem Bein woanders zu stehen, halbherzig etwas zu tun, zu denken, zu wollen. Erst wenn man sich auf nichts Berechenbares, Kalkulierbares mehr stützt, ist Verausgabung authentisch.

Bataille bemühte sich, die Verausgabung in der Kulturgeschichte der Menschheit festzumachen: im Rausch, im Fest, in der Erotik, im Spiel. Gibt es denn Ihrer Auffassung nach - gestützt auf Ihre Erfahrungen - in der heutigen weitgehend auf dem Effizienzprinzip aufgebauten Gesellschaftsordnung im Westen wie im Osten überhaupt noch Elemente der Verausgabung oder sind sie nicht völlig an den Rand gedrängt worden?

Individuell können Sie es tun, aber wenn es keinen Widerpart gibt, ist dies sehr hoffnungslos. Wenn Sie z.B. lachen, und Sie versuchen das stundenlang, das geht nicht ohne Widerpart. Allenfalls in einem schweren Rausch kann man das alleine machen.

Betrachtet man Schreiben als Verausgabung, dann ist der Widerpart für den Autor der Leser. Ist es richtig, daß Sie darunter leiden, daß ein solcher Dialog selten stattfindet?

Ich habe immer das Gefühl gehabt, „du hast ein Verbrechen begangen“, jenseits von einer Resonanz: jedes Buch ein Verbrechen, Tausende von Exemplaren, die einen verfolgen. Nach Abschluß der Heftigen Stille war ich in einem unmöglichen Zustand. Ich fühlte mich in einem furchtbaren Zustand, elend und wie ein Verbrecher.

In einem Leserbrief heißt es zum Autor der „Anderen Notizen“: „Um Mattheus zu lesen (und zu überleben), muß man entweder Masochist oder potentieller (Selbst)Mörder sein. Ist er das 'Ding aus einer anderen Welt‘?“ Bestätigt Sie das?

Ich fühle mich erinnert an den Büchner paraphrasierenden Berliner Mauerspruch: Er läuft ja wie ein offenes Rasiermesser durch die Welt. Der Irrtum besteht darin, daß ich nicht eins zu eins ins Geschriebene übertrage, was ich empfinde. Schreiben ist der gebremste Amok oder Selbstmord...

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