: „Dank an Wilhelm Lehmbruck“
Ich möchte meinem Lehrer Wilhelm Lehmbruck danken. Warum konnte ein Mensch, der, nachdem ich ein ganz kleines Bruchstück seines Werkes und das sogar als Photographie einmal in die Hände bekam, in mir den endgültigen Entschluß erzeugen, mich mit der Plastik auseinanderzusetzen? Wieso konnte also ein Toter mich so etwas lehren, etwas Entscheidendes für mein Leben festzulegen, denn ich selbst hatte es aus meinem Suchen heraus eigentlich bereits anders festgelegt, denn ich befand mich schon inmitten eines naturwissenschaftlichen Studiums? Ich bekam also dieses Büchlein, das auf irgendeinem Tisch lag zwischen anderen, ziemlich zerrupften kleinen Heftchen, ganz zufällig in die Hand, schlug die Seite auf und sah eine Skulptur von Wilhelm Lehmbruck, und unmittelbar ging mir die Idee auf, eine Intuition also: Skulptur - mit der Skulptur ist etwas zu machen. Alles ist Skulptur - rief mir quasi dieses Bild zu. Und in dem Bild sah ich eine Fackel, sah ich eine Flamme, und ich hörte: „Schütze die Flamme!“
Dieses Erlebnis, das mich durch den Krieg hindurch begleitet hat, hat nach dem Krieg dazu geführt, daß ich mich mit der Bildhauerei, mit der Plastik auseinandergesetzt habe. Ich habe also, ich wußte gar nicht, was das war, ein Kunststudium angetreten. Ich habe mich erst einmal umgehört, wie man so etwas überhaupt macht. Man muß wissen, das gehört auch zur Vorgeschichte dieses Grunderlebnisses hinzu, ich bin ja am Niederrhein geboren, und das in der Zeit des Dritten Reiches, in dem man zwar täglich von einem Wald von Skulpturen umgeben war, der Art, wie sie zu dieser Zeit gemacht wurden, aber sie haben in mir keinerlei Erlebnis ausgelöst. Als ich mich dann entschlossen hatte, später, mich mit den Dingen intensiver auseinanderzusetzen während des Studiums, habe ich mich gefragt: Wäre denn irgendein anderer Bildhauer, Hans Arp oder Picasso oder Giacometti oder irgendein Rodin, wäre eine Photographie von Rodin, wenn sie mir seinerzeit in die Hände gefallen wäre, fähig gewesen, diese Entscheidung in mir herbeizuführen? Ich muß noch heute sagen: Nein, denn das außergewöhnliche Werk Wilhelm Lehmbrucks rührt eine Schwellensituation des plastischen Begriffes an.
Er treibt die Tradition, die in dem Erleben des Räumlichen am menschlichen Körper, am menschlichen Leibe besteht, bis zu einem Punkt hin auf einen Höhepunkt, der einen Rodin noch übertrifft. Das heißt, in ihm wird die Plastik nicht mehr nur das rein Räumliche, das Raumausgreifende, der Organismus des „Maß gegen Maß“, wie Lehmbruck immer sagte, dem der Satz, daß Plastik alles ist, daß Plastik schlechthin das Gesetz der Welt ist, ja nicht fremd war, daß also er sich ausdrücken konnte im „Maß gegen Maß“ als einer Tradition der Bildhauerei von Rodin bis zu seinem Tag auf einem Höhepunkt, der etwas Innerliches meint; das heißt, seine Skulpturen sind eigentlich gar nicht visuell zu erfassen. Man kann sie nur erfassen mit einer Intuition, wobei einem ganz andere Sinnesorgane ihr intuitives Tor offen machen, und das ist vor allen Dingen das Hörende - das Hörende, das Sinnende, das Wollende, d.h. es sind Kategorien in seiner Skulptur vorhanden, die niemals vorher vorhanden waren.
Nun haben wir es mit diesem Erlebnis zu tun. Ich habe mich also nur aufgrund von Wilhelm Lehmbruck entscheiden können, mich mit der Plastik zu befassen. Nun aber habe ich schon angedeutet, daß Wilhelm Lehmbruck an einer tragischen Wende gelebt hat, an einer tragischen Wende, an der der einen Kulminationspunkt gesetzt hat, der scheinbar über diese Höhe, nach dieser Art von „Maß gegen Maß“ im Raum, nicht mehr entwicklungsfähig war. Vielleicht. Ich stelle diesen Gedanken in den Raum. Ich habe in ihm auch, als ich dieses kleine Heftchen gesehen habe, seine Lebenszeit bemerkt. Ich merkte den zweimaligen Jüngling, denn er hat einmal 19 Jahre gelebt im vergangenen Jahrhundert und die zweiten 19 Jahre in diesem Jahrhundert. Ich habe dies alles geballt erlebt, wie ein Doppelbild von einem Jüngling oder von einer Jungfrau oder von einer Jungfrau und von einem Jüngling.
Während meines Studiums, als ich mich also bereits auf den Weg gemacht hatte, als ich mich mit weitergehenden Fragen, die an das Hören in Wilhelm Lehmbrucks Plastiken anschließen und dann das Denkende, an den Denksinn, der in ihnen liegt, befassen mußte, um zu einer ganz neuen Theorie des zukünftigen plastischen Gestaltens zu gelangen. Als ich an ein plastisches Gestalten dachte, das nicht nur physisches Material ergreift, sondern auch seelisches Material ergreifen kann, wurde ich zu der Idee der sozialen Plastik regelrecht getrieben. Ich halte dies auch für eine Botschaft von Wilhelm Lehmbruck, denn ich fand eines Tages in einem verstaubten Bücherschrank den sehr oft unterdrückten Aufruf von Rudolf Steiner von 1919 an das deutsche Volk und die Kulturvölker. Dort wurde ein Versuch gemacht, den sozialen Organismus auf einem völlig neuen Fundament aufzubauen. Nach den Erfahrungen des Krieges, an dem Lehmbruck so gelitten hatte, steht also ein Mann auf und sieht die Gründe für diesen Krieg in der Ohnmacht des Geisteslebens. Ich sah in diesem Heftchen diesen Aufruf, der eine Organisation entstehen lassen sollte, die wirksam einen neuen sozialen Organismus begründen sollte, und ich sah unter den ersten Komiteemitgliedern den Namen Wilhelm Lehmbruck. Es war die erste Ausgabe eines solchen Aufrufes, es sind später Nachdrucke gemacht worden, doch fehlen darin die Namen des Gründungskomitees. Nun liegt das Tragische in dieser Sache, daß ich in diesem Aufruf, unter den wenigen Personen, die sich dort angegliedert hatten, um das Komitee zu bilden, die verschiedenen Komitees zu bilden, in Deutschland, Österreich und der Schweiz, sah: In dem deutschen Komitee ist ein Kreuz hinter Wilhelm Lehmbruck, d.h. er muß diesen Willen, diese Flamme, die er weiterreichen wollte, im letzten Augenblick seines Lebens, als er durch das Tor des Todes seiner eigenen Skulpturen hindurchgegangen ist, gemacht haben. Denn Sie wissen, wie es ist bei solchen Aufrufen: Man sammelt die Namen der Komiteemitglieder und versucht möglichst schnell, so etwas in Zirkulation zu bringen. Es muß also nur eine ganz kurze Zeitstrecke, eben eine solche, die zwischen dem Sammeln von Unterschriften und dem Druck vorhanden war, dagewesen sein, in der er sein Leben beendet hat. Dieses ist also das zweite Symbol. Und ich fand, dort, es war etwas Deckungsgleiches, dort fand ich, nicht wahr, das Weiterreichen der Flamme in eine Bewegung hinein, die auch heute noch notwendig ist und die auch heute viele Menschen wahrnehmen sollten als eine Grundidee zur Erneuerung des sozialen Ganzen, die zur sozialen Skulptur führt.
Ich will die Zusammenhänge so schließen. Ich will sagen, es kommt nach den Prinzipien, die Wilhelm Lehmbruck auf den allerhöchsten Gipfel der Entwicklung der Plastik in der Moderne getrieben hat, eine Zeit, in der der Zeit- und der Wärmebegriff den Raumbegriff erweitert. In diesem Weitergeben des plastischen Prinzips an einen Impuls, der den Wärme- und Zeitcharakter als plastisches Prinzip für alles Weitere zur Umgestaltung des sozialen Ganzen nimmt, womit wir alle gemeint sind, da hat Lehmbruck die Flamme an uns weitergegeben. Ich habe sie gesehen.
Ich habe aber auch gesehen: Er ist zurückgegangen zu allen Menschen, denn in dieser Liste der Menschen, die dort unterschrieben haben, findet man Bergleute, Tischlermeister, Krankenschwestern, auch Universitätsprofessoren, gelegentlich einen Künstler, aber man empfindet eben einfach diese Liste als einen Ausdruck der Menschheit schlechthin, an die diese Flamme weitergereicht wurde.
Das ist eigentlich das, was ich zu sagen habe über die eine Seite und über die andere Seite. Ich meine mit der einen wie mit der anderen Seite die weitere Entwicklung des plastischen Prinzips als Zeitprinzip schlechthin. Das heißt, Plastik ist ein Begriff der Zukunft schlechthin, und wehe denjenigen Konzeptionen, denen dieser Begriff nicht zu eigen ist.
Ich habe gestern einen Bericht eines Symposiums von einer wissenschaftlichen Gesellschaft gelesen, in der Soziologen sehr leichtfertig die großen Entwürfe von Soziologen oder von Wissenschaftstheoretikern in einen Topf werfen, und diese heißen Rudolf Steiner, Klages, Jürgen Habermas und so weiter und viele andere Namen. Da wird alles sozusagen in einen Topf geworfen und der Begriff des Verheerenden als Verdikt über solche, sagen wir einmal, plastischen Konzeptionen, verhängt. Ich möchte also mich auf die Seite stellen, auf der Wilhelm Lehmbruck gelebt hat und gestorben ist und wo er jeden einzelnen Menschen versehen hat mit dieser inneren Botschaft: „Schütze die Flamme. Denn schützt man die Flamme nicht, / ach eh man's erachtet, / löscht leicht der Wind das Licht, / das er entfachte. / Brich‘ dann Du / ganz erbärmlich Herz, / stumm vor Schmerz“. Ich möchte dem Werk Wilhelm Lehmbrucks seine Tragik nicht nehmen.
Joseph Beuys
(Rede gehalten anläßlich des Festaktes zur Verleihung des Wilhelm-Lehmbruck-Preises im Wilhelm-Lehmbruck-Museum der Stadt Duisburg am 12.Januar 1986.
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