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Vom Vorrang der reinen Empfindung

■ Die große Malewitsch-Ausstellung im Stedelijk Museum in Amsterdam

Elisabeth Motz

Die bisher umfangreichste Übersicht über das Gesamtwerk des russischen Avantgardisten Kasimir Malewitsch (1878-1935) zeigt zur Zeit das Stedelijk Museum in Amsterdam. Es ist die einzige westliche Station dieser Ausstellung, die zuvor in Moskau zu sehen war.

Mit Gemälden, Gouachen, Zeichnungen, Architekturmodellen, Bühnenbildentwürfen, Mauskripten und Porzellan wird die Entwicklung und umfängliche künstlerische Aktivität Malewitschs veranschaulicht, der sich nicht nur als Maler, sondern auch als Theoretiker und visionärer Poet verstand. Deutlich wird in dieser Ausstellung zudem die enge Beziehung zwischen der russischen und der europäischen Avantgarde zu Beginn dieses Jahrhunderts. Von deren Hauptprotagonisten Matisse, Kandinsky und Mondrian - unterscheidet sich Malewitsch besonders durch die Radikalität, mit der er seine künstlerischen Bestrebungen umsetzte.

Seine auf geometrischen Grundelementen aufbauende gegenstandslose Malerei kulminierte schließlich in dem berühmten Schwarzen Quadrat auf weißem Grund, das er selbst als „Null-Form“ und „nackte ungerahmte Ikone meiner Zeit“ bezeichnete. Das „befreite Nichts“ erschien ihm als Paradigma einer ganz neuen Malerei, die er Suprematismus nannte. Diese gleichermaßen formale wie philosophische Revolution zieht, konseqeunt zu Ende gedacht, die Negation der Welt der Erscheinungen und Vorstellungen nach sich und setzt die reine malerische Empfindung an deren Stelle.

Ende 1904 ließ Malewitsch sich dauerhaft in Moskau nieder und fand schnell Kontakt zu allen innovativen Künstlern, die dort arbeiteten. Das offene vorrevolutionäre Klima begünstigte eine Kunstszene, die auch der europäischen Avantgarde ausgesprochen aufgeschlossen gegenüberstand. Besonders eng war die Verbindung zur französischen Moderne. Zunächst arbeitete Malewitsch in impressionistischer Manier. In den folgenden Jahren nahm er Tendenzen des Post -Impressionismus bis hin zum Jugendstil und des Symbolismus auf. Unverkennbar ist auch der Einfluß von Matisse und den französischen Fauves.

Von 1911 bis 1913 kamen seine Themen aus der Arbeitswelt der Arbeiter und Bauern. Dieses Interesse an volkstümlicher Ikonographie teilte er mit den europäischen Künstlern; er war fasziniert von der unmittelbaren Expressivität der „primitiven“ Formen Afrikas und Ozeaniens oder der russischen Volkskunst und Ikonen. Malewitsch wandte sich ab 1911 - diese Themen jedoch beibehaltend - dem Kubismus zu. Ende 1912 zeigte er zum ersten Mal abstrakte und kubistische Arbeiten auf Ausstellungen in St.Petersburg und Moskau. Die Bilder werden auf konische und röhrenartige Formen in metallischen Farben reduziert. Dieser Kubo-Futurismus entstand im intensiven Kontakt mit der literarischen Avantgarde und unter dem Einfluß des französischen Kubismus. Die grundlegenden Veränderungen in seiner Arbeit führte Malewitsch noch weiter. Seine Bilder bedeuteten nicht nur die Auflösung und den Zerfall des Gegenstandes; sie sollten die Gegenstandslosigkeit selbst zeigen. Er reduzierte sie auf ihre letzten formalen Elemente bis hin zum Quadrat auf der reinen Fläche.

Das berühmte schwarze Quadrat als suprematistisches Emblem tauchte zum ersten Mal in der futuristischen Oper Sieg über die Sonne von 1913 auf, für die Malewitsch die Kostüme und das Bühnenbild entwarf. Dieses Jahr sah er auch als Entstehungsjahr seines Suprematismus: „Als ich im Jahre 1913 in meinem verzweifelten Bemühen, die Kunst vom Ballast der gegenständlichen Welt zu befreien, zu der Form des Quadrats flüchtete (...).“ An dieser künstlerischen Revolution arbeitete er weiterhin mit ganzer Kraft. 1915/16 zeigte Malewitsch in der Ausstellung 0,10 Letzte Futuristische Ausstellung in Petrograd die erste Reihe suprematistischer Gemälde, in denen die illusionistische Perspektive aufgehoben wird und die malerischen Elemente Form, Farbe und Struktur - in die Fläche integriert sind. Mit der Hängung der Bilder im Ausstellungsraum - verteilt auf der ganzen Wand von der Decke bis zum Fußboden und in die Ecken des Raumes - unterstrich er noch den autonomen Charakter der suprematistischen Formen. Die Kritik reagierte sehr empfindlich auf diese Außerkraftsetzung der Regeln; so schrieb Malewitsch: „Als ich (...) ein Bild, das nichts als ein Quadrat auf weißem Feld darstellte, ausstellte, seufzte die Kritik und mit ihr die Gesellschaft: 'Alles, was wir geliebt haben, ist verlorengegangen: Wir sind in einer Wüste... Vor uns steht ein schwarzes Quadrat auf weißem Grund!'“

1927 erhielt Malewitsch die Erlaubnis, nach Polen und Deutschland zu reisen. In Berlin wurde ihm eine Sonderausstellung gewidmet, für die er eine Reihe von Bildern und Zeichnungen zur Verfügung stellte, die er auch dort zurückließ. Ein Großteil davon gelangte 1957 in den Besitz des Amsterdamer Stedelijk Museums. Auch diesem Umstand ist es wohl zu verdanken, daß sein Werk nicht völlig in Vergessenheit geriet.

Mit der Ausbreitung des Stalinismus hatte die vorrevolutionäre Avantgarde zunehmend Schwierigkeiten, sich künstlerisch und politisch Gehör zu verschaffen. Die meisten von ihnen, wie Kandinsky oder Chagall, verließen die Sowjetunion zu Beginn der zwanziger Jahre. Malewitsch wurde mehr oder weniger totgeschwiegen. Man hat vielfach darüber spekuliert, ob seine Rückkehr zum Figürlichen im Spätwerk als Resignation verstanden werden kann. 1933 malt er sein letztes Selbstporträt in der Art eines Fürstenporträt der Renaissance: Auf den unteren rechten Rand hat er das schwarze Quadrat als Emblem gesetzt.

Elisabeth Motz

Die Ausstellung dauert bis zum 28.Mai. Der Katalog in englischer und niederländischer Sprache kostet 55 Gulden.

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