: Film: Landschaft im Nebel
■ Wo, bitte, liegt Deutschland?
Immer wieder hält Alexander die drei überbelichteten Negative, die Orestis aus einem Mülleimer gefischt hat, vor die aufgehende Wintersonne Griechenlands: „Nebel.. und da hinten ein Baum...seht ihr ihn nicht?“, fragt Orestis. Alexander und Voula sehen nichts. „Ich auch nicht“, sagt Orestis, „war nur ein Witz...“ Er will den Filmstreifen wegwerfen, doch Alexander möchte ihn behalten. Sein Blick entdeckt in den leeren Bildern ein fantastisches, ein der Wirklichkeit entgegengesetztes Bild: Eine Landschaft im Nebel.
Und die Kinder gehen weiter. Sie sind auf der Suche nach ihrem Vater, von dem es heißt, er lebe in Deutschland. Was nicht stimmt, wie man bald erfährt. Aber die Kinder brauchen die Illusion, die Hoffnung, ihn dort zu finden. Sie springen in den Nacht-Zug („nun sind wir wirklich unterwegs“), der täglich nach Deutschland fährt, natürlich ohne Ticket, ohne Paß. Eine Reise mit vielen Unterbrechungen. Eine Reise durch Griechenland im Winter, im Regen, im Schnee. Manchmal vergißt man, daß die beiden Kinder ein Ziel haben, daß sie unbedingt ankommen wollen: Das ist Absicht. Der griechische Regisseur Theo Angelopolous zeigt in Landschaft im Nebel die Macht der Wünsche, der Träume: seine Menschen sind zwar immer in Bewegung, immer auf der Suche, kommen aber nie an.
Voula und Alexander auf ihrer Odyssee: Sie werden von beflissenen Schaffnern an die Polizei ausgeliefert, entwischen aber im letzten Augenblick, irren durch unwirtliche griechische Straßen, sind hungrig und schläfrig. Sie lernen Oristis kennen, einen jungen Schauspieler, der sie unterwegs aufliest und mit in Richtung Norden nimmt. Da er keine Fragen stellt, wird er akzeptiert. Mit ihm verbringen sie einige Tage, er versorgt sie und bringt sie mit seinem Motorrad ans Meer. Dort fordert Orestis Voula zum Tanzen auf. Die Kamera fährt nah heran. Orestis berührt sie. Sie schaut ihn an, läuft schnell weg. Orestis weiß nicht, daß Voula vor zwei Tagenvon einem LKW-Fahrer vergewaltigt wurde, und den Glauben an die (männliche) Menschheit nun für immer verloren hat.
Die Vergewaltigungszene ist, obwohl sie nicht gezeigt wird, die einzig wirkliche Szene in diesem Film: Zum ersten Mal werden Gefühle (danach) gezeigt und eine Identifikation des Zuschauers mit einem der Akteure ermöglicht. Ansonsten sind die Blicke auf Distanz, die Menschen bleiben unberührbar. Landschaft im Nebel ist manchmal ein fernes Märchen - mit vielen unzusammenhängenden Szenen, die mit der eigentlichen Geschichte nichts zu tun haben. Surrealistische Blickerweiterungen nennt Angelopolous die vielen Bilder, die ins Drehbuch eingefügt wurden, und nun für sich sprechen sollen: „Ich zeige oft symbolische Elemente, ohne ihre eigene Bedeutung zu berücksichtigen, die mir oft entgleitet. Daher kann ich vieles nicht erklären“.
Ganz am Ende des Films, kurz bevor die Kinder die Grenze Griechenlands erreichen, geht Orestis Fantasie in Erfüllung: In der Ferne sehen Voula und Alexander einen Baum, der sich vom Nebel abhebt. Sie glauben nun, sie seien in Deutschland.
gin
Cinema, 20.45 Uhr
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