: Zarathustras Geheimnis
■ Ein Gespräch mit Joachim Köhler, der eine Biographie über das Intimleben und die Philosophie Friedrich Nietzsches veröffentlicht hat
Friedrich Nietzsche war homosexuell, lautet eine der Grundaussagen Ihres Buches, und seine Philosophie sei deutlich davon geprägt. Lüften Sie da ein gut gehütetes Geheimnis?
Joachim Köhler: Viele haben es schon zu seinen Lebzeiten geahnt, einige gewußt. Aber nur wenige haben gewagt, an das Tabu zu rühren - die intern über seine Homosexualität sprachen, waren Freud und seine Schüler. Veröffentlicht haben es aber auch sie nicht.
Ist es denn so wichtig, über das Intimleben des Philosophen Bescheid zu wissen?
In diesem Falle, ja! Für Nietzsche war die Homosexualität, das heißt, das, was er in sich als Begierde spürte und was er vor der Gesellschaft verbergen mußte, ganz entscheidend in seinem Leben. Es handelte sich nicht um eine verdrängte, unterbewußte Strömung seines Wesens, sondern er wußte darum, was die Sache für ihn noch schwieriger machte. Denn damals war die Homosexualität strafrechtlich verfolgt. Auch von daher war die Angst vor Strafe einer der Mittelpunkte seines Lebens. Angst vor der Strafe des Gesetzes, aber auch Angst vor der Strafe des Gewissens. Darunter hat der Pastorensohn furchtbar gelitten. Das hat ihm schreckliche Alpträume bereitet, die auch in Also sprach Zarathustra eine entscheidende Rolle spielen.
Ihr Buch ist also die Spurensicherung einer großen Tabuisierung? Neben der Homosexualität gab es doch auch die von der Nietzsche-Gemeinde immer wieder verdrängte syphilitische Infektion?
Es war seine Schwester, die als erste versuchte, aus ihm einen Edelphilosophen zu machen, der als ein Verkünder einer großdeutschen, arisch-germanischen Phantasie herhalten konnte. Tabuisiert wurde alles, was dem in seinen Notizen und Briefen, aber auch in seinem Lebenslauf widersprach, also daß er in Italien ein Vagabundenleben geführt hatte, daß er die Antisemiten und das Deutsche Reich haßte, daß er Rauschgifte nahm, häufig an Selbstmord dachte, daß er Gespenster sah und seine Familie verachtete. Dafür wurde ein Nietzsche-Bild errichtet, das wunderbar in die Gründerzeit des Deutschen Reiches paßte. Da war ein Prophet gefordert, der den Menschen den Willen zur Macht lehrte, der die Vision eines Übermenschen vorzeichnete, und schließlich ein Mensch, der klar machte, daß es eine Herren- und eine Sklavenmoral gibt. Aber dieses Bild ist nicht nur einseitig, sondern auch falsch. Wie man seine Philosophie zurechtdeutete, so wurde auch an seinem Leben korrigiert: Nietzsche war keusch wie ein Heiliger. Das ist aber Unsinn!
Man kann heute davon ausgehen, daß Nietzsche sich syphilitisch infiziert hatte. Natürlich gab es zu seiner Zeit bereits Leute, die aus sicherer Quelle davon wußten. Einige nehmen sogar an, er habe sie in einem Genueser Männerbordell aufgeschnappt.
Woher nahm Nietzsche eigentlich sein Bild vom Übermenschen?
Nietzsche erzählt im Zarathustra von den Glückseligen Inseln, auf denen er die Götter nackt tanzen sah und wo er den Namen „Übermensch“ am Wege aufgelesen habe. Ich glaube, daß die Vision des Übermenschen nur mit dem befreienden Erlebnis der nackten Männerkörper an italienischen und sizilianischen Stränden zu erklären ist. Der Übermensch ist das Ziel seiner sexuellen und ästhetischen Sehnsucht, die schon im Gymnasiasten bei der ersten Bekanntschaft mit dem klassischen Griechentum und seinen Marmorskulpturen erwacht war. In Italien erlebte er, daß es diese Menschen wirklich gibt. „Gesunde“ Menschen, die nicht unter den Ketten irgendeiner Moral leiden. Er hat sich unsterblich in sie verliebt.
Die erotische Sehnsucht nach diesem befreiten Menschen „transfiguriert“ Nietzsche in die philosophische Sehnsucht, ihn zum Herrn über die Menschheit zu machen. Die Erde muß von diesen göttlichen Menschen her neu interpretiert werden. So sollen alle Menschen sein. Wenn „Götter“ herrschen, braucht man keinen Gott mehr.
Der „Zarathustra“ ist bis heute dunkel geblieben, die meisten Leser legen das Buch nach wenigen Seiten weg. Haben Sie des Rätsels Lösung gefunden?
Ich sehe in diesem Buch eine verschlüsselte Autobiographie. Auf der einen Seite schildert Nietzsche, wie er ein Leben lang unter dem Alptraum der Moral und Religion, unter dem immer wiederkehrenden Gespenst seiner Herkunft gelitten hat. Auf der anderen Seite beschreibt er, wie er durch einen Akt seines Willens sich von diesen Fesseln befreit und die Erfüllung seiner Sehnsüchte auf den Glückseligen Inseln findet.
Ein Hauptwerk der Philosophie als Bibel der Homosexualität?
Nietzsche beschreibt im Zarathustra einen Akt der Befreiung. Der Mensch muß sich befreien von den Fesseln, die ihn niederhalten und daran hindern, seine Identität zu finden. Das Buch ist nicht nur der Rechenschaftsbericht über seine Befreiung, sondern auch der Aufruf zur Befreiung aller anderen, die unter der Moral leiden. Nietzsches Credo lautet: „Beißt die Schlange tot, die euch erwürgt!“
Joachim Köhler: Zarathustras Geheimnis. Friedrich Nietzsche und seine verschlüsselte Botschaft.
Greno-Verlag, 750 S., 69 Mark
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