: Messerstich war für Gericht Notwehr
Vier Wochen Jugendarrest wegen versuchten Totschlags an Bewohner des hannoverschen Sprengel-Geländes / Nach Messerstich fand jugendlicher Neonazi milde Richter ■ Aus Hannover Jürgen Voges
Fassungslos verließen die fünfzig Sprengel-Bewohner und -Freunde letzten Donnerstag den Saal des Landgerichts Hannover, als der Vorsitzende Richter Gerhard Kausch das Urteil verkündet hatte: Freispruch auf Kosten der Staatskasse für den jugendlichen Neonazi Roland B., und vier durch die Untersuchungshaft abgegoltene Wochen Dauerarrest für seinen ebenfalls neunzehnjährigen Gesinnungsgenossen Michael P., der im Februar letzten Jahres einen Bewohner des hannoverschen Sprengel-Geländes durch einen Messerstich in den Rücken lebensgefährlich verletzt hatte. Zwar habe der Angeklagte MichaelP. den objektiven Tatbestand des versuchten Totschlags erfüllt, so führte der Vorsitzende der 2.Jugendkammer des Landgerichts vor leeren Bänken dann aus, doch er habe Maßnahmen zur Abwehr eines Angriffs ergreifen dürfen. Nur weil er die Grenzen der notwendigen Verteidigung überschritten habe, sei er der fahrlässigen Körperverletzung schuldig und mit dem vierwöchigen Jugendarrest zu bestrafen.
Trotz des Notwehrurteils stellte auch Richter Kausch in seiner Begründung fest, daß die neun Jugendlichen, die in der Tatnacht nach einer ausländerfeindlichen Flugblattaktion zum Sprengel-Gelände fuhren, „Besetzer verprügeln“ wollten. Die neun, dem Gericht bekannt als Mitglieder der „FAP oder Gruppen rechts davon wie der Nationalen Sammlung“, seien zur Tatzeit mit Gaspistolen, Steinen oder Messern bewaffnet gewesen. Unbestritten ist auch, daß diese Gruppe von Neonazis zunächst von hinten über einen Zaun auf das Sprengel-Gelände eindringen wollte und daß dann bei den Sprengel-Bewohnern Alarm geschlagen wurde.
In dieser Situation, so sagte das Opfer, Sprengel-Bewohner Kai-Uwe, vor Gericht aus, sei er mit einem anderen Sprengel -Bewohner dem Schlägertrupp genau in die Arme gelaufen. Roland B. habe ihm dann den Mauerstein an den Kopf geworfen, der zu dem lebensgefährlichen Schädelbruch führte. An den folgenden Stich in die Lunge konnte sich das Opfer schon nicht mehr erinnern.
Hundertfünfzig Meter weit soll das mit einem Knüppel oder einer Kette bewaffnete Opfer den Neonazi Michael P. verfolgt haben, bevor dieser „mit bedingtem Tötungsvorsatz“ zugestochen habe, führte Richter Kausch aus. Von dieser Verfolgungsjagd war weder in den Zeugenaussagen noch in einem der Plädoyers die Rede, sie tauchte zum ersten Mal in der Urteilsbegründung auf. Auch daß das Opfer Kai-Uwe „mit einem Morgenstern“ bewaffnet gewesen sei, hatte allein der Hauptangeklagte behauptet.
Für den Verteidiger Rechtsanwalt Rösler ist nach diesem Prozeß wegen versuchten Totschlages zumindest eines klar: „Auf Seiten der Sprengel-Leute haben die Sympathien der Jungendkammer des Landgerichts nicht gelegen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen