: Montaseri: „Massaker ohne Gerichtsverfahren“
■ Der ehemalige Khomeini-Nachfolger Ayatollah Hussein Ali Montaseri kritisierte in mehreren Briefen die Massenhinrichtungen im Iran
IM
Ayatollah Hussein Ali Montaseri, designierter Nachfolger des iranischen Revolutionsführers Khomeini, trat Ende März von seinem Posten zurück und kam so seiner Absetzung zuvor. Der Grund: Montaseri hatte seit dem letzten Sommer die Massenhinrichtungen kritisiert. Die Briefe an Khomeini und die Leitung des Evin-Gefängnisses für politische Gefangene, die wir im folgenden dokumentieren, kursierten in Qom und Teheran als Flugblätter und fanden auch den Weg ins Ausland.
An Ayatollah Ruollah Khomeini
29. Juli 1988
Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen
An Seine Exzellenz Großayatollah Khomeini, möge seine Gegenwart erhalten bleiben,
Nach Grüßen möchte ich feststellen:
Betreffs des Befehls seiner Exzellenz über die Hinrichtung der Monafeqin (die oppositionellen Volksmudschaheddin, die das Regime bewaffnet bekämpfen, d. Red.) in den Gefängnissen; Die Hinrichtung der Festgenommenen bei den jüngsten Ereignissen (militärischen Operationen der Volksmudschaheddin, d. Red.) ist von der Nation und der Gesellschaft akzeptiert und hat offenbar keine gegenteilige Wirkung. Aber die Hinrichtung derer, die schon seit langem im Gefängnis sitzen, wird:
1. unter den gegenwärtigen Umständen als Rache interpretiert werden;
2. viele im allgemeinen treue und revolutionäre Familien enttäuschen und ihre Gefühle verletzten.
3. Die meisten dieser Gefangenen sind in ihren früheren (politischen) Positionen nicht länger konsistent, aber gewisse radikale Autoritäten der Exekutive benehmen sich, als ob sie auf ihren früheren Positionen insistieren. (...)
5. Die plötzliche Hinrichtung der Gefangenen, die von den Gerichten und gemäß der Gesetze zu geringeren Strafen als der der Exekution verurteilt wurden, und die keinerlei neue Taten begangen haben, würde zur Gleichgültigkeit gegenüber allen juristischen Prinzipien und den Urteilen der Richter führen. (...)
7. Bisher gab es keine positiven Folgen der Hinrichtungen und des harten Vorgehens, wir haben nur eine zunehmende Propaganda gegen uns und ein zunehmendes Interesse an den Monafeqin und den Konterrevolutionären festgestellt. Es wäre angemessen, eine Zeitlang Milde und Güte walten zu lassen.
8. Falls Sie auf Ihrer Anordnung bestehen, befehlen Sie bitte zumindest, daß ein Kriterium für die Entscheidung (über die Hinrichtungen) künftig auf der kollektiven Meinung der Richter, des Staatsanwaltes und des Offiziers des Sicherheits- und Geheimdienstes basiert und daß keine Frauen mehr hingerichtet werden, vor allem keine Schwangeren (oder solche mit Kindern).
Die Hinrichtung von mehreren tausend Menschen binnen weniger Tage wäre schließlich keine angemessene Reaktion und Irrtümer wären nicht ausgeschlossen. Einige Richter, gläubige Richter, waren sehr verstört, und es wäre daher angemessen die folgende Hadith zu berücksichtigen (Worte des Propheten Mohammed):
Versuche soweit wie möglich zu verhindern, die islamischen Strafgesetzte gegenüber den Moslems anzuwenden, und wenn es eine Möglichkeit gibt, diese Strafen zu vermeiden, versuche sie zu nutzen. So wäre es besser für einen Imam, irrtümlich zu vergeben als irrtümlich zu strafen.
Hussein Ali Montaseri
An Ayatollah Ruollah Khomeini
September 1988
(...)Nach Grüßen und dem Brief vom 29.7. 88, und um meinen religiösen Pflichten nachzukommen, stelle ich hiermit fest:
Vor drei Tagen kam ein religiöser Richter aus einer der Provinzen, der ein vertrauenwürdiger Mann ist, nach Qom. Er war verärgert über die Art, wie Ihre jüngste Anordnung umgesetzt wird, und sagte: „Der Geheimdienstoffizier fragte einen Gefangenen, ob er noch auf seine früheren (politischen) Positionen beharrte. Die Frage lautete: Bist du bereit, die Monafeqin-Organisation zu verurteilen? Er antwortete: Ja. Bist du bereit, das in einem Fernsehinterview zu sagen? - Ja. - Bist du bereit, an die Front zu gehen und gegen den Irak zu kämpfen? - Ja. - Bist du bereit, auf eine Mine zu treten? - Sind alle Leute bereit, auf eine Mine zu treten? Außerdem sollte man von mir nicht so viel erwarten, da ich erst kürzlich ein gläubiger Moslem geworden bin. - Dann ist es klar, daß du noch auf deiner früheren Position beharrst.
Dann benahm sich der Offizier gegenüber dem Gefangenen so, als habe er nicht bereut (als sei er noch ein Unterstützer der Volksmudschaheddin, d. Red.).“
Und der gleiche religiöse Richter erzählte: „Ich bestand darauf, daß eine kollektive Entscheidung (für das Urteil, d. Red.) das Kriterium sein sollte und nicht eine Mehrheitsentscheidung, und sie lehnten das ab. Die entscheidende Rolle bei der Verhängung von Urteilen ist die des Sicherheits- und Geheimdienst-Offiziers und die anderen (Mitglieder seines Teams) stehen unter seinem Einfluß.“
Ihre Exzellenz könnte hier deutlich sehen, welche Sorte von Personen mit welcher Art von Ansichten Ihren Befehl ausführen, der das Leben von Tausenden von Menschen betrifft.
Hussein Ali Montaseri
An Herrn Miri, den religiösen Richter, Herrn Eshraghi, den Staatsanwalt, Herrn Ra'isi, den stellvertretenden Staatsanwalt, Herrn Pour-Mohammadi, den Vertreter des Geheimdienstes im Evin-Gefängnis, um den Befehl des Imam auszuführen:
1. Ich habe mehr unter den Monafeqin gelitten und Schläge von ihnen eingesteckt als ihr alle, sowohl im Gefängnis (vor der Revolution 1979, d. Red.) als auch außerhalb des Gefängnisses. Sie haben meinen Sohn zum Märtyrer gemacht. Wenn einer auf Rache aus wäre, dann wäre ich es, der sie suchen würde. Aber ich berücksichtige das Interesse des Islam, und der Revolution, und des Landes und das Prestige der velayat-e faqih (religöse Führung, d. Red.) und der Regierung des Islam. Ich berücksichtige das Urteil der Zukunft und der Geschichte.
2. So ein Massaker ohne Gerichtsverfahren, obwohl es um Gefangene und solche in Haft geht, wird ihnen (den Volksmudschaheddin, d. Red.) sicher langfristig zugute kommen und die Welt würde uns verurteilen und sie nur noch mehr zum bewaffneten Kampf ermutigen. Es ist falsch, Ideen und Gedanken durch das Mittel des Tötens zu bekämpfen. (...)
4. Die meisten Gefangenen, die auf ihren früheren Ansichten beharren, sind durch das Verhalten der Verhörenden und der Offiziere im Gefängnis dazu gebracht worden, andernfalls wären sie flexibel und hätten ihre alten Ansichten revidiert.
5. Das Argument, sie würden sich wieder den Monafeqin anschließen, wenn wir sie freiließen, würde nicht dazu führen, sie als „Rebellen und Krieger gegen Gott“ zu charakterisieren und abzustempeln. Auch Imam Ali verurteilte seinen Mörder nicht auf diese Weise, obwohl er genau wußte und sagte, daß er sein Mörder sei. (...)
7. Das Urteil und seine Verkündung müssen in einer gesunden Atmosphäre und ohne Emotionen stattfinden. (Mit dem Wort des Propheten: Ein Richter soll nicht im Zustand der Wut urteilen.) Mit all diesen Parolen und Provokationen ist die soziale Atmosphäre ungesund. Wir sind verstört über die Verbrechen, die die Monafeqin im Westen (des Iran, d. Red.) begangen haben. Wir haben begonnen, die Gefangenen und die, die schon lange inhaftiert sind, zu bestrafen. Außerdem würde es alle Richter und alle früheren Urteile in Frage stellen, wenn wir sie exekutieren, ohne daß sie neue Aktivitäten gegen uns durchgeführt haben.
Nach welchem Kriterium exekutiert Ihr jemanden, der zuvor zu einer geringeren Strafe als die Hinrichtung verurteilt worden war? Was werdet Ihr morgen den Familien sagen, nachdem Ihr Besuche und Telefongespräche untersagt habt? (...)
10. Schließlich sind die Volksmudschaheddin nicht Personen, sondern eher eine Art des Denkens und des Verstehens. Es ist eine Art von Logik, und die falsche Logik und ihr Argument muß mit der richtigen Logik und dem richtigen Argument konfrontiert werden. Durch Töten würde es sich nicht auflösen und verschwinden, sondern eher ermutigt werden und weiter ausbreiten.
Ich wünsche Ihnen Erfolg! Hussein Ali Montaser
13. August 1988
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