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Glasnost für Psychiatriepatienten

Das Bundesverwaltungsgericht entscheidet: In psychiatrische Kliniken eingewiesene Menschen haben ein Recht auf Akteneinsicht / Eine Verweigerung der Patientenakten ist verfassungswidrige „staatliche Bevormundung“ / Ex-Patient erhält in dritter Instanz Recht  ■  Aus Berlin Vera Gaserow

Patienten von psychiatrischen Landeskrankenhäusern haben grundsätzlich ein Recht auf Einsicht in ihre eigenen Krankenakten. Dieses Recht darf ihnen auch dann nicht verweigert werden, wenn Ärzte oder Klinikpersonal befürchten, daß diese Akteneinsicht therapeutisch bedenklich sei und den psychischen Zustand der Betroffenen eher verschlechtere. Zu diesem richtungweisenden Grundsatzurteil, das alle staatlichen psychiatrischen Einrichtungen betrifft, kam gestern das Bundesverwaltungsgericht in Berlin. Diese bisher weitestgehende Entscheidung zugunsten von Patienten zieht einen Schlußstrich unter einen jahrelangen Streit um die Geheimhaltungspraxis in der Psychiatrie. Zum grundgesetzlich geschützten Selbstbestimmungsrecht des einzelnen gehöre auch die Freiheit, sich über die Gründe einer Einweisung in eine psychiatrische Klinik und das Krankheitsbild zu informieren, argumentierten die Bundesrichter gestern. Sie gaben damit der Klage eines 57jährigen Mannes gegen das Land Baden-Württemberg statt.

Aus ihm bis heute nicht bekannten Gründen war Otbert S. 1981 in das psychiatrische Landeskrankenhaus Emmendingen zwangseingewiesen worden. Als er nach neun Tagen wieder entlassen wurde, begehrte er vergeblich Auskunft darüber, warum und auf wessen Veranlassung er gegen seinen Willen in der Psychiatrie gelandet war. Doch statt einer Antwort bekam Otbert S. von der Klinik eine Ablehnung. Die Gründe waren die gleichen, mit denen Ärzte und Behörden seit Jahren Psychiatriepatienten im dunkeln lassen: Es bestehe kein berechtigtes Interesse an einer Akteneinsicht, und eine Offenlegung der eigenen Patientenunterlagen sei therapeutisch eher schädlich.

Otbert S. klagte gegen diese entmündigende Heimlichtuerei und bekam vor dem Verwaltungsgericht auch Recht. Die nächste Instanz, der baden-württembergische Verwaltungsgerichtshof, stellte sich jedoch auf die Seite des Klinikträgers und klappte die Aktendeckel wieder zu. Das geltende Unterbringungsgesetz sehe nun einmal kein Akteneinsichtsrecht vor, argumentierten die Oberverwaltungsrichter, und das habe seine Gründe. Ein Akteneinsichtsrecht für Patienten nämlich beinträchtige die therapeutischen Privilegien des Arztes und könne zu einem erneuten Krankheitsausbruch führen. Eine Geheimhaltung der Psychiatrieakten sei daher im Eigeninteresse der Patienten geboten, meinten die Richter. Die Entscheidung über eine Offenlegung der Krankheitsgeschichte müsse daher allein dem behandelnden Arzt überlassen bleiben.

Mit dem Selbstschutz von Psychiatriepatienten argumentiert auch seit Jahren der Bundesgerichtshof, der als bisher höchste richterliche Instanz ein grundsätzliches Akteneinsichtsrecht abgelehnt hat. Die besondere Situation der Psychiatrie, so hatte der BGH erst im Dezember 1988 wieder entschieden, rechtfertige es, daß allein aus „therapeutischen Bedenken“ die Krankenunterlagen für Patienten verschlossen bleiben.

Ganz anders entschied nun gestern das Bundesverwaltungsgericht, das als Gerichtsinstanz für die staatlichen psychiatrischen Einrichtungen zuständig ist: Jeder Mensch, so meinten die Bundesverwaltungsrichter, habe das Recht, selbst zu bestimmen, welchem Risiko er sich aussetze. Das Selbstbestimmungsrecht des Grundgesetzes schließe das Recht ein, sich selbst in eine Gefahr zu begeben. Einem Psychiatriepatienten die Akteneinsicht mit dem Argument zu verweigern, er könne einen Krankheitsrückfall erleiden, sei eine staatliche Bevormundung, die nicht mit der Verfassung in Einklang steht. Nur in extremen Ausnahmesituationen dürfe der Staat die Handlungsfreiheit seiner Bürger zu ihrem eigenen Schutz einschränken, argumentierten die höchsten Verwaltungsrichter. Ein solches staatliches Eingreifen wäre jedoch nur dann berechtigt, wenn zum Beispiel eine akute Selbstmordgefahr besteht. Davon hätte jedoch im Fall von Otbert S. keine Rede sein können. (AZ: BVerw G3C4.86)

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