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Die US-Medien und die deutsche Seele

Die nukleare Psychose der Bundesdeutschen macht Washington Sorgen / Bonns Widerstand gegen die Lance-„Modernisierung“ entblößt das Beharren der USA auf den Denkschemata des Kalten Krieges / Verteidigungsexperten Nitze und Colby kritisieren Bush  ■  Aus Washington Stefan Schaaf

„Was ist nur in die Krauts gefahren?“ - diese Frage beschäftigt anläßlich des gegenwärtigen Streits in den Nato -Rängen um die Lance-„Modernisierung“ nicht nur die Bush -Administration. Ganze Heerscharen von US-Kolumnisten und Kommentatoren fühlen täglich besorgt den deutschen Puls. Haben die Deutschen sich abermals von einem pazifistischen Bazillus anstecken lassen? Hat ihr wirtschaftlicher Erfolg einen neuen Nationalismus keimen lassen? Oder muß man ihnen schlicht Undankbarkeit vorwerfen; weiß man denn nicht zu würdigen, daß dank des nuklearen Schutzschirms der Amerikaner die Deutschen seit vierzig Jahren Freiheit, Demokratie und Rock'n Roll genießen durften?

Der Streit um die „Modernisierung“ der in der BRD stationierten nuklearen Kurzstreckenwaffen und Kohls im Bundestag bekräftigter Wunsch nach Verhandlungen um deren Abbau hat in Washington Empörung ausgelöst. Die Bush -Administration fühlt sich durch die Abkehr Kohls und Genschers von dem eine Woche zuvor in Brüssel ausgehandelten Kompromiß betrogen. Und das auch noch vom traditionellen Musterschüler des Bündnisses. Die politische Infragestellung der Allianz während der „Nachrüstung“ Anfang der achtziger Jahre brachte erste Anzeichen pubertären Aufbegehrens, doch damals verlief der Riß zwischen der Bonner Regierung und der Bevölkerung. Heute zieht die Kohl-Regierung - aus Furcht vor einer Wahlniederlage - mit der Bevölkerung an einem Strang und probt die Revolte gegen den amerikanischen Übervater. Es sei ein „emotionales, ein psychologisches Ding“ für die Deutschen, analysiert ein US-Beamter gegenüber der 'Washington Post‘. Alles Unfug, argwöhnt dagegen der Kolumnist A.M. Rosenthal, bis vor einiger Zeit noch Chefredakteur der 'New York Times‘. Die Wahrheit sei, daß eine ökonomisch starke BRD die neue Politik Gorbatschows ausnutzen wolle, um im Ostblock Fuß zu fassen und letzten Endes eine politisch-wirtschaftliche Allianz mit der UdSSR zu bilden.

Kühlere Köpfe in den USA verstehen den Konflikt um die Lance-Raketen hingegen richtiger als einen Streit um die politische und militärische Antwort des Westens auf Gorbatschows Abrüstungsvorschläge und die von ihm angebotene Möglichkeit, von einer 40jährigen Nachkriegsära mit ihren starren Fronten Abschied zu nehmen. Das Denken der Bush -Administration hinkt dabei um Meilen hinter den weit dramatischeren Veränderungen in der europäischen Haltung hinterher. „Das Terrain des Kalten Krieges ist uns vertraut. Wir finden uns darin bequem zurecht“, kommentiert die 'New York Times‘. Doch auch in der US-amerikanischen Öffentlichkeit findet Gorbatschow mehr Sympathien als in den Rängen der gegenwärtigen Administration, eröffnet seine neue Politik doch die Möglichkeit, die aufgeblähten Rüstungsausgaben zu reduzieren und die knapper gewordenen Budget-Dollars anderweitig zu investieren. Verteidigungsminister Richard Cheney demonstrierte noch letzte Woche, wie schwer die Abhängigkeit von der Droge des Kalten-Kriegs-Denkens abzuschütteln ist: Gorbatschow werde scheitern, meinte Cheney, deswegen müsse man weiterrüsten. Der Präsident beeilte sich zwar zu beteuern, daß er diese Ansicht nicht teile, doch ändert dies nichts an den ansonsten unnachgiebigen Tönen der Bush-Außenpolitiker. Bush stünde dabei sogar noch rechts von der Reagan -Administration, urteilte Reagans Rüstungskontrollexperte Paul Nitze am Mittwoch in einem freimütigen Gespräch mit der 'New York Times‘. Er habe Bushs Außenminister James Baker bereits vor längerem vor der Krise gewarnt, die der Standpunkt der neuen Administration zu den Lance-Raketen heraufbeschwöre. Für „weite Teile Europas“ sei die US -Haltung „politisch unmöglich“, meinte Nitze. Vor allem verspiele man die Möglichkeit, ein Waffensystem abzuschaffen, bei dem die Sowjetunion eine überwältigende Überlegenheit habe. Nitze schätzt, daß die UdSSR über 3.000 nukleare Kurzstreckenraketen verfügt, während sich knapp 700 Lance-Raketen in den Arsenalen der Nato-Länder befinden. Doch verhandeln will Washington über diese Waffenkategorie erst, wenn die Gespräche über konventionelle Streitkräfte abgeschlossen sind.

Das Pentagon hat einstweilen beim Kongreß für die nächsten zwei Haushaltsjahre 150 Millionen Dollar für die Entwicklung des Lance-Nachfolgers - einer nuklearen Rakete mit 450 Kilometer Reichweite - beantragt. Ähnlich wie Nitze äußerte sich auch eine Gruppe von Verteidigungsexperten aus beiden Parteien, darunter Nixons CIA-Direktor William Colby und Carters Abrüstungsbeauftragter Paul Warnke. Sie empfahlen Gespräche zwischen Nato und UdSSR über die Kurzstreckenwaffen mit dem Ziel, ihre Zahl stark zu verringern. Colby widersprach dem in den USA oftgehörten Argument, ein Abzug der Lance würde Europa „denuklearisieren“. Er sprach sich dafür aus, die Verringerung der Zahl dieser Raketen mit einer Demobilisierung konventioneller Truppen zu verknüpfen.

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