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Memmingen-Prozeß

■ Im Abtreibungsprozeß gegen den Frauenarzt Horst Theissen fällt heute das Urteil / Von Gunhild Schöller

Wegen „illegaler Abtreibungen“ steht Dr. Theissen vor Gericht. Seine Patientinnen wurden wegen „illegaler Abtreibung“ verurteilt, ihre Ehemänner oder Freunde teilweise wegen „Beihilfe“. Ein beispielloser Prozeß, die „Memminger Hexenjagd“, geht zu Ende.

Eine Frau, Mitte dreißig, fahrig und nervös, steht vor den Richtern des Memminger Landgerichts. Sie ist eine von 79 Zeuginnen, die im größten und spektakulärsten Abtreibungsprozeß der Bundesrepublik, im Theissen-Prozeß in Memmingen, aussagen muß. Sie berichtet, daß sie bereits drei Kinder habe, das letzte habe nur mit Hilfe eines gefährlichen Kaiserschnitts zur Welt kommen können. Da hätten ihr die Ärzte geraten, nicht mehr schwanger zu werden, weil sie „beim nächsten Eingriff sterben könnte“. Anschließend muß ihr Ehemann in den Zeugenstand. Er bestätigt ihre Aussage, auch ihm hätten die Ärzte gesagt, „da könnte Ihre Frau sterben“.

Staatsanwalt Herbert Krause (34), Scharfmacher und Protagonist dieses Prozesses, der stets verklemmt wie ein strebsamer Abiturient in seiner Bank sitzt, gibt dazu seinen Kommentar: „Könnte!“ sagt er, „Könnte!„

Nach acht Monaten mit über 60 Verhandlungstagen geht der Theissen-Prozeß heute mit der Verkündung des Urteils zu Ende. Gerichtet wird dabei nicht nur über den Frauenarzt Horst Theissen (51), sondern auch über die Notlagenindikation und damit über die fortschrittliche Veränderung, die die Reform des Paragraphen 218 im Jahre 1975 brachte. Auf der Anklagebank sitzt Theissen wegen illegaler Abtreibungen in 156 Fällen. Er habe - so heißt es in der Anklageschrift - abgetrieben, ohne daß eine Indikation vorgelegen habe. Theissen dagegen sagt, er habe sich in jedem einzelnen Fall von der Notlage der Frau überzeugt, eine Notlagenindikation sei also gegeben gewesen.

Als „Memminger Hexenjagd“ wurde bekannt, was in der Bundesrepublik ohne Beispiel ist. Nach einem anonymen Hinweis an die Steuerfahndung, Theissen leite Einnahmen am Fiskus vorbei, beschlagnahmte die Staatsanwaltschaft seine gesamte Patientinnenkartei. Theissen war die Adresse für Abtreibungen, die im weiteren Umkreis der Allgäuer Stadt Memmingen unterderhand weitergegeben wurde. Diese Gelegenheit wollte sich die Staatsanwaltschaft möglicherweise auf Weisung der bayerischen Justizministerin Mathilde Berghofer-Weichner - nicht entgehen lassen. Sie entdeckte, daß ein grünes I für „Interruptio“, den lateinischen Fachausdruck für Abtreibung, stand. Dann begann die Verfolgungsjagd. Gegen 277 Frauen leiteten die Staatsanwälte Ermittlungen wegen illegalen Schwangerschaftsabbruchs ein. 139 Frauen wurden rechtskräftig verurteilt. Die meisten Frauen nahmen den Strafbefehl - mit Strafen bis zu 3.200 Mark - aus Scham und Angst vor der Öffentlichkeit ohne Widerspruch hin. Die wenigen, die vor das Amtsgericht gingen, wurden stereotyp abgeurteilt: Eine Notlagenindikation habe nicht vorgelegen, denn die Frau hätte die Schwangerschaft austragen und das Kind anschließend zur Adoption freigeben können.

Eine Memminger „Spezialität“ waren Ermittlungen und Verurteilungen gegen Männer. Ahnungslos hatten die Frauen im Verhör ausgesagt, daß ihr Ehemann oder Freund ihnen die Adresse Theissens gegeben, sie dorthin mit dem Auto gebracht oder 4- bis 600 Mark für den Abbruch bezahlt habe. Weil diese Männer ihre Frauen und Freundinnen nicht im Stich gelassen hatten, wurden sie wegen „Beihilfe zur illegalen Abtreibung“ verurteilt. Auch die meisten Männer nahmen aus Angst vor Häme und Neugier in der Kleinstadt Memmingen, wo jeder jeden kennt, den Strafbefehl ohne Einspruch hin. Die wenigen, die vors Amtsgericht gingen, wurden verurteilt: zu Geldstrafen um 800 Mark.

Während so am Amtsgericht - von der Öffentlichkeit nur wenig beachtet - in Serie verurteilt wurde, saß der Arzt Theissen vor dem Landgericht auf der Anklagebank. Obwohl die Medien an diesem Prozeß großes Interesse zeigten, konnten sie ihn nicht kontinuierlich verfolgen. Denn all die Frauen, die als Zeuginnen über ihre Abtreibung detailliert Auskunft geben mußten, sagten unter Ausschluß der Öffentlichkeit aus. Damit sollte ihre Intimsphäre geschützt werden, allerdings schützten sich die Richter damit auch vor der Kontrolle durch die Öffentlichkeit. Die Informationen, die dennoch den Weg aus dem verschlossenen Gerichtssaal nach draußen fanden, waren erschreckend. Da mußten sich Frauen süffisante Fragen gefallen lassen nach dem Zustand ihrer Ehe oder Partnerschaft. Und was immer sie sagten, es wurde von den Staatsanwälten Herbert Krause und Johann Kreuzpointner gegen die Angeklagten verwendet. So berichteten Frauen, daß sie von einem anderen Mann schwanger gewesen seien, während ihre Ehe sich in einer schweren Krise befunden habe. In dieser Situation hätten sie die Schwangerschaft auf keinen Fall austragen können. Konnte in einem Fall die Ehe gekittet werden - was sich ja nur im nachhinein feststellen läßt -, argumentierte die Staatsanwaltschaft, die Ehekrise könne wohl so schlimm nicht gewesen sein oder die Frau habe sie sich nur eingebildet. Eine Notlage liege jedenfalls nicht vor. Ging in einem anderen Fall die Ehe in die Brüche, meinten die Staatsanwälte, die Frau hätte das uneheliche Kind doch ruhig zur Welt bringen können, da „die Ehe sowieso keinen Bestand hatte“. Auch in diesem Fall gab es also nach Auffassung der Staatsanwälte - keine Notlage.

Aber nicht nur die beiden jungen Staatsanwälte profilierten sich als Scharfmacher. Auch Richter Detlef Ott (38) wollte mit dem Memminger Prozeß auf den Stufen der bayerischen Justiz ein bißchen höher klettern. Aber er stürzte tief. In Buchhaltermanier fragte er die Frauen aus nach der Größe der Wohnung, nach der Höhe des Einkommens und der Schulden. Dann prüfte er pedantisch nach mit dem Einkommenssteuerbescheid, der Rechnung über den Mietzins und dem Schreiben des Kreditinstituts. Auch die Frage nach dem Pkw fehlte bei Richter Ott nicht: Wie weit der Weg zur Arbeit gewesen sei und ob das Auto denn unbedingt nötig gewesen sei. Denn sie hätte doch den Pkw abschaffen und sich dafür ein Kind anschaffen können. Zusammen mit dem Vorsitzenden Richter Albert Barner (61) hakte Ott einen Standardfragenkatalog ab. Immer in der Absicht, zu prüfen, ob denn eine Notlage bestanden habe. Bis Richter Detlef Ott heftig stolperte: Über die von ihm bewirkte Abtreibung bei seiner Freundin.

Nach einem engagierten Bericht im ersten Fernsehprogramm über den Theissen-Prozeß klingelte im Büro der Theissen -Verteidiger das Telefon. Am Apparat war die Freundin der ehemaligen Freundin von Detlef Ott. Sie berichtete, daß Ott im Jahre 1980 mit seiner Freundin ins benachbarte Baden -Württemberg gefahren sei, um eine Notlagenindikation zu besorgen und eine ungewollte Schwangerschaft abbrechen zu lassen. Ott, zu diesem Zeitpunkt 29 Jahre alt, hatte gerade in Memmingen als Staatsanwalt angefangen und ermittelte Pikanterie am Rande - gegen Theissen wegen des Verdachts der illegalen Abtreibung. Damals noch ohne Erfolg. Als Staatsanwalt hatte Ott ein gutes und sicheres Gehalt - eine Notlage nach Memminger Maßstäben lag also nicht vor.

Der Vorsitzende Richter Albert Barner (62), vom schleppenden Prozeß und den öffentlichen Angriffen sichtlich mitgenommen, reagierte konsequent. Er gab dem Antrag der Theissen-Verteidiger statt, Ott wegen Befangenheit aus dem Verfahren zu entfernen. Barner, streng katholisch, war geschockt über die Niederungen menschlicher Verhaltensweisen, in die dieser Prozeß ihn führte, und strafte Ott mit dem Rausschmiß.

Mit der offenkundig gewordenen Doppelmoral des Richters Ott hatte der Prozeß sein letztes Fünkchen Legitimität eingebüßt. Endgültig waren auch die Getreuen in Bayern, die täglich zur heiligen Dreieinigkeit von CSU, katholischer Kirche und Justiz beten, für diesen Abtreibungsprozeß nicht mehr zu begeistern. Abtreibung bleibt für einen braven Katholiken zwar immer Mord - aber auf Erden möchte er darüber schweigen und alles andere gerne dem Richter im Himmel überlassen.

Unbeeindruckt von diesem Stimmungsumschwung blieben allein die Staatsanwälte. In ihrem abschließenden Plädoyer erkannten sie in keinem einzigen Fall eine Notlage. „Wie Schlachtvieh“ seien Theissen die Frauen zum Abbruch zugetrieben worden, wagten sie zu behaupten. Staatsanwalt Johann Kreuzpointner betonte, für Theissen seien die Abtreibungen „eine ständige Erwerbsquelle“ in einem „wohlorganisierten Geschäftsbetrieb“ gewesen. Damit wollte er den Strafrahmen für „besonders schwere Fälle“ von fünf Jahren skizzieren. Schließlich forderten sie eine Haftstrafe von drei Jahren und sechs Monaten und zusätzlich ein Berufsverbot von drei Jahren.

Auf einzelne Fälle ließen sich die Verteidiger von Horst Theissen dagegen überhaupt nicht ein. Sebastian Cobler, Jürgen Fischer und Wolfgang Kreuzer maßten sich nicht an, ein Urteil über die Notlage einer ungewollt Schwangeren abzugeben. In den Mittelpunkt ihrer Argumentation stellten sie die ärztliche Erkenntnis. Nicht zufällig - so die Verteidiger - werde im Wortlaut des reformierten Pargraphen 218 ausschließlich die ärztliche Erkenntnis erwähnt. Nur der Arzt könne im vertrauten Gespräch mit der Patientin mit Hilfe seines Einfühlungsvermögens, seiner Menschenkenntnis und seines medizinischen Fachwissens erkennen, ob sie sich in einer Notlage befinde. „Kein Staatsanwalt, kein Richter und auch kein Verteidiger kann eine Notlage feststellen oder im nachhinein überprüfen“, rief Verteidiger Wolfgang Kreuzer aus. Auch deshalb nicht, weil die Situation in der Arztpraxis völlig anders sei als vor Gericht. Während die Frau zum Arzt Vertrauen habe, herrsche am Gericht eine Atmosphäre des Zwangs und des Mißtrauens. Die Erkenntnismethoden des Richters seien ganz anderer Art als diejenigen des Arztes. Vor Gericht gelte nur, was mit Zeugen oder Beweisen zu belegen sei, während der Arzt wesentlich mit seiner Intuition arbeite. Für Horst Theissen forderten sie folglich Freispruch im Hauptanklagepunk (Verstoß gegen §218, Abtreibung ohne Indikation).

Ohne Zweifel hatte Theissen jedoch einige Vorschriften nicht eingehalten, die der Instanzenweg zur Erlangung einer ordnungsgemäßen Indikation vorsieht. Er hatte auch abgetrieben, wenn eine Patientin keinen Nachweis über eine soziale Beratung und die Indikationsstellung eines anderen Arztes mitbrachte. Aber der Strafrahmen für diese Vorschriften des Paragraphen 218b und 219 ist relativ gering: maximal ein Jahr Freiheitsstrafe oder Geldstrafe. Sebastian Cobler plädierte dafür, in diesen Fällen eine Verwarnung auszusprechen.

Wie immer das Urteil im Memminger Abtreibungsprozeß ausfallen wird, es ist ein Meilenstein. Ein Meilenstein auf dem Weg zurück in finstere Zeiten des Abtreibungsverbots und der Frauen, die auf dem Küchentisch verenden. Oder ein Meilenstein zur Bewahrung des relativen politischen Fortschritts der Indikationslösung und der sicheren medizinischen Versorgung für Frauen. Wenn Richter sich anmaßen, einer Frau eine Notlage im nachhinein abzusprechen, wird kein Arzt mehr das Risiko eingehen, eine Notlagenindikation festzustellen. Wenn die Richter nicht eindeutig klarmachen, daß niemand eine Indikation überprüfen darf - egal, ob er anschließend zu einem positiven oder negativen Ergebnis kommt -, sind alle Ärzte eingeschüchtert. Nur wenn sie Theissen aufgrund der relativ bedeutungslosen Vorschriften der Paragraphen 218b und 219 verurteilen, bleibt der magere Fortschritt erhalten, den die Indikationslösung den Frauen brachte.

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