: Brasiliens Metaller im Massenstreik
Größte Streikbewegung seit Ende der Militärdiktatur 1985 / Aufstand gegen neuesten Wirtschaftsplan der Regierung Sarney / Wird ein ehemaliger VW-Arbeiter der nächste Präsident Brasiliens? / Luis Inacio da Silva, Vorsitzender der linken Arbeiterpartei PT, hat gute Aussichten für die Wahlen im November ■ Von Martin Kempe
Hamburg (taz) - Am Ende des Gesprächs drückte mir einer der Gewerkschaftsaktivisten von VW do Brasil mit verschmitztem Lächeln einen Zettel in die Hand. Es war die Fotokopie jenes berühmten Lenin-Motivs, das den russischen Revolutionsführer beim Studium der 'Prawda‘ zeigt. Nicht der Agitator des bewaffneten Aufstands, nicht der Organisator der sozialen Umwälzung - der studierende Revolutionär drückt vielleicht am ehesten den Entwicklungsstand der brasilianischen Arbeiterbewegung aus, der jetzt in die umfassendste Streikwelle seit dem Ende der Militärherrschaft 1985 eingemündet ist.
Jenes Gespräch zwischen Betriebsräten aus den großen, in der Industriestadt Sao Bernardo bei Sao Paulo ansässigen Multis und einigen deutschen Journalisten fand im November letzten Jahres statt, wenige Tage, nachdem die linke „Arbeiterpartei“ (PT) bei den Kommunalwahlen in Brasilien ihre bislang größten Erfolge verbuchen konnte. In der Industrieregion Sao Paulo mit ihren über 40 Millionen Einwohnern hatte die PT über 30 Prozent der Stimmen erreicht und in Sao Paulo selbst wie in vielen anderen Großstädten die rechte Stadtregierung gestürzt. Mit diesem Wahlsieg sind die PT und die mit ihr verbündete, basisdemokratisch strukturierte Gewerkschaftsbewegung CUT zur linken Alternative zum herrschenden Machtkartell aus rechten und liberalen Parteien gewachsen. Der Vorsitzende der PT, der ehemalige Arbeiterführer Luis Inacio (Lula) da Silva, gilt inzwischen als aussichtsreicher Kandidat der Linken für die Präsidentschaftswahlen im Herbst dieses Jahres.
Damals wie heute beherrschte ein Thema den Wahlkampf und auch die Diskussion innerhalb der gespaltenen brasilianischen Gewerkschaftsbewegung: Durch die horrende Inflation von zeitweise mehr als 1.000 Prozent jährlich sind die Realeinkommen der brasilianischen Arbeiterbevölkerung zum Teil bis an, beziehungsweise unter die Hungergrenze gesunken, vom dramatisch sich zuspitzenden Elend der rund 25 Millionen Un- und Unterbeschäftigten auf dem Land und in den Elendsgürteln der Großstädte ganz zu schweigen. Die Regierung des Präsidenten Sarney versuchte damals die Gewerkschaften in einen Sozialpakt mit Unternehmern und Staat hineinzuziehen, der mittels Lohn- und Preisstopp die Inflation bremsen sollte. Die linke CUT hat sich im Gegensatz zum vom Staat und Unternehmern protegierten Gewerkschaftsdachverband CGT derartigen Vereinnahmungsversuchen immer verweigert und dürfte auch bei den derzeitigen Massenstreiks die entscheidende mobilisierende Kraft sein.
Im Januar verkündete Sarney dann dennoch zusammen mit einer Währungsreform seinen „Sommerplan“, einen Lohn- und Preisstopp, der allerdings nur für kurze Zeit die Inflationsspirale bremsen konnte. Im Umfang der jetzigen Streikbewegung mit über zwei Millionen Streikenden drückt sich die tiefe Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Regierungspolitik aus. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen im kommenden November hat nun Präsident Sarney mit seinem Anti-Streik-Erlaß (siehe taz von gestern, S.6) die politische Polarisierung verschärft. Es ist kaum zu erwarten, daß sich die Gewerkschaften einer Streikgesetzgebung beugen, die an die Zeiten der Diktatur erinnert. Schließlich haben sie, allen voran die Metallarbeiter in Sao Bernardo als „Speerspitze der brasilianischen Arbeiterbewegung“, in den siebziger Jahren das Streikrecht und das Recht auf freie gewerkschaftliche Betätigung in mehreren Massenstreiks gegen brutale staatliche Repression durchgesetzt.
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