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Die heimliche Macht des Supreme Court

Die acht Obersten Richter und die bisher einzige Richterin tagen seit dem 27.April hinter verschlossenen Türen über eine mögliche Änderung der seit 1973 beispiellos liberalen Abtreibungspraxis in den USA / Aufgrund der konservativen Stellenbesetzungen unter Reagan ist mit dem Schlimmsten zu rechnen  ■  Aus Washington Stefan Schaaf

Er habe in seiner politischen Karriere zwei große Fehler gemacht, meinte der ehemalige US-Präsident Eisenhower im RÜckblick auf seine achtjährige Amtszeit im Weißen Haus: „Beide sitzen im Supreme Court.“ Der eine, der mittlerweile 83jährige William Brennan, sitzt dort heute noch, 29 Jahre nachdem Eisenhower das Oval Office für John F. Kennedy räumte. Neben Thurgood Marshall, dem einzigen Schwarzen unter den neun Richtern, gilt Brennan mittlerweile als der liberale Statthalter in einem zunehmend konservativen Obersten Gericht. In seinen 33 Amtsjahren hat Brennan sieben Präsidenten überdauert, er hat an Entscheidungen mitgewirkt, die die schwarze Bürgerrechtsbewegung vorantrieben, die Richard Nixon zwangen, die Tonbandaufzeichnungen seiner Gespräche über Watergate freizugeben, die für einige Jahre landesweit die Vollstreckung der Todesstrafe aussetzten und die eine der liberalsten Abtreibungsregelungen der westlichen Welt einführten.

Richter auf Lebenszeit

Die Macht des Supreme Court im US-amerikanischen Verfassungssystem ist weit größer als man denkt, doch sie entfaltet sich abgeschottet von der Neugier der Medien. Die neun Richter sind nicht an Schlagzeilen interessiert. Nur einige ihrer Entscheidungen landen jedes Jahr auf den Titelseiten der Tagespresse. Die Macht des Supreme Court liegt vor allem in seiner Unabhängigkeit von den anderen Säulen der Gewaltenteilung. Seine Mitglieder werden zwar vom jeweils amtierenden Präsidenten ernannt - und zwar auf Lebenszeit - und vom Senat bestätigt, doch danach sind sie nur noch sich selbst und der Verfassung verpflichtet. Mancher Präsident, der plötzlich mit einem unangenehmen Richterspruch konfrontiert wurde, hat dies im Stillen bedauert - Eisenhower stand da nicht allein. Auch seinen zweiten „Fehler“ konnte Eisenhower deshalb nur beklagen, aber nicht korrigieren: Earl Warren. Eisenhower hatte den zunächst strammen Konservativen 1953 zum Vorsitzenden des Obersten Gerichts gemacht - als republikanischer Gouverneur von Kalifornien hatte Warren unter anderem im Zweiten Weltkrieg die Internierung von 120.000 Japanern unterstützt. Der Präsident konnte nicht ahnen, daß Warren im neuen Amt einen Sinneswandel durchmachen und seine Ernennung eine 15 Jahre währende Ära liberaler Urteile des Obersten Gerichts einleiten würde, in der viele Grundrechte für Frauen, Schwarze oder Strafgefangene erstritten wurden.

Mancher Präsident hat sich bei Ernennungen in ähnlicher Weise verschätzt, doch hat dies noch keinen daran gehindert, jede Gelegenheit begierig zu ergreifen, einen ihm genehmen Kandidaten ins Oberste Gericht zu hieven. Zuletzt erlebte man dies mit Ronald Reagans allerdings erfolglosem Versuch, den erzkonservativen Bundesrichter Robert Bork dorthin zu katapultieren. Unter Reagan wurden drei neue Richter ernannt, darunter die erste Frau am Supreme Court, Sandra Day O'Connor. Auch sie könnte zur Enttäuschung für Reagan und dessen Nachfolger George Bush werden, falls sie im gegenwärtig anhängigen Fall „Webster gegen Reproductive Health Services“ für eine Beibehaltung der seit 1973 gültigen Abtreibungsregelung eintritt. Über ihre Haltung kann man nur spekulieren oder aus früheren Urteilen Rückschlüsse ziehen, denn die Obersten Richter der Vereinigten Staaten geben traditionell keinerlei Interviews und beraten hinter verschlossenen Türen. Unvorstellbar, daß sie ihre Ansichten etwa in TV-Talkshows debattierten oder in Kommentarform den Zeitungen anböten. Wie sie jeweils zu einem Urteil gekommen sind und welche Diskussionen sie dabei mit ihren Amtskollegen geführt haben, wird in keinerlei öffentlich zugänglicher Dokumentation dargelegt - außer in der einstündigen Anhörung der Antragsteller und mit dem verkündeten Urteil selbst. Hinweise erlauben allenfalls die gelegentlich verfaßten Minderheitsmeinungen der unterlegenen Richter, die gleichfalls veröffentlicht werden.

Grundsatzurteil 1973:

„Roe vs. Wade“

Dennoch ist inzwischen bekannt, wie der Gerichtshof vor sechzehn Jahren zu seinem Abtreibungsurteil im Fall „Roe gegen Wade“ gekommen ist, das nun möglicherweise eingeschränkt werden wird. Einige liberale Mitglieder des Supreme Court hatten auf einen Fall gewartet, der ihnen ermöglichen würde, die Verfassungsmäßigkeit der zunehmend strikten Abtreibungsregelung einiger Einzelstaaten zu überprüfen. In ihren Augen verstießen diese Gesetze gegen die persönliche Freiheit einer Frau und begrenzten das professionelle Urteilsvermögen des Arztes. Außerdem benachteiligten diese oft komplizierten Gesetze Frauen mit niedrigem Einkommen. Acht Jahre zuvor hatte der Supreme Court bereits Geburtenkontrolle unter Berufung auf das Recht einer Frau auf ihre Privatsphäre legalisiert - dasselbe Recht wollten die liberalen Richter auch auf die Frage der Abtreibung ausweiten.

Der Oberste Gerichtshof wählt jedes Jahr etwa 200 von mehreren tausend Fällen aus, die an ihn herangetragen werden. Wenn vier der neun Richter sich dafür aussprechen, einen Fall aufzugreifen, weil er eine die Verfassung betreffende Frage aufwirft, wird eine mündliche Anhörung anberaumt. Einmal pro Woche kommen die Richter zusammen, um über die gehörten Fälle zu beraten und ein Meinungsbild zu erstellen. Einer der Richter wird dann bestimmt, ein Urteil zu entwerfen. Oft wird dieser Entwurf über Monate diskutiert und verändert, bevor das Urteil verkündet werden kann; bisweilen wird die anfängliche Ansicht des Gerichts gar völlig umgestürzt. Das Abtreibungsurteil in „Roe gegen Wade“ wurde von dem 64jährigen von Richard Nixon 1970 ernannten Harry Blackmun verfaßt, der einige Jahre als Firmenanwalt einer großen Klinik gedient hatte und so über gewisse Vorkenntnisse in medizinischen Fragen verfügte. Dennoch war er überrascht festzustellen, daß Abtreibung lange Zeit legal war und in den USA erst um 1880 gesetzlich verboten wurde weil sie damals einen riskanten Eingriff darstellte und durch das Verbot das Leben der Frau geschützt werden sollte. Über Monate arbeitete Blackmun an seinem Urteilsentwurf, wobei er große Schwierigkeiten mit der Frage hatte, welche Rolle die Lebensfähigkeit eines weitentwickelten Fötus für seine Urteilsbegründung spiele. Monatelang wälzte er Fachliteratur in der Bibliothek seiner alten Arbeitsstätte. Zunächst wollte Blackmun alle Abtreibungen bis zum sechsten Monat zulassen, doch dann beugte er sich den Anregungen seiner andersdenkenden Amtskollegen, daß das Urteil von drei Entwicklungsstufen eines Fötus auszugehen habe: In den ersten drei Monaten der Schwangerschaft müsse es allein der Frau und ihrem Arzt überlassen sein, über eine Abtreibung zu entscheiden. Im zweiten Trimester könne es Einschränkungen geben, um die Gesundheit der Frau zu schützen. Im dritten Trimester einer Schwangerschaft stehe es den Bundesstaaten frei, zum Schutz des Ungeborenen Abtreibungen zu untersagen.

Diese Formulierung war ein nach langem Hin und Her ausgearbeiteter Kompromiß, der die Zustimmung von sieben der neun Richter garantierte. So hatte der Chef des Gerichts, Warren Burger, auf der besonderen Regelung für das zweite Trimester bestanden, während Richter Thurgood Marshall sich gegen eine allzu strikte Zeiteinteilung in Trimester wandte. Marshall hatte aus persönlicher und beruflicher Erfahrung ein scharfes Gespür für die soziale Realität der Unterklasse, er beharrte darauf, daß eine Schwangerschaft für eine schwarze Frau mit geringem Einkommen etwas anderes bedeute als für eine wohlhabende Mutter mit Zugang zu guten Ärzten und Krankenhäusern.

Marshall ist seit den fünfziger Jahren eine Symbolfigur für das schwarze Amerika. Als Anwalt einer wichtigen Bürgerrechtsorganisation hatte er wiederholt den Supreme Court angerufen, so erstritt er 1954 die Rassenintegration der Schulen. Lyndon Johnson hatte ihn 1966 an das Oberste Gericht berufen. Bis heute zweifeln manche Verfassungsrechtler, ob das Urteil in „Roe gegen Wade“, so wie es von Harry Blackmun formuliert wurde, den Anforderungen gerecht werde. Die Begründung des Urteils sei nicht ausreichend aus der Verfassung hergeleitet, die Frage sei nun zwar politisch, aber nicht verfassungsrechtlich beigelegt, sagen sie. Dennoch hat das Gericht seitdem seine grundsätzliche Haltung aufrechterhalten. Sechzehn Jahre später ist der politische Druck der Abtreibungsgegner so stark geworden, daß ein konservativer Supreme Court nun erneut die Grenzen der Abtreibungsfreiheit abzustecken versucht.

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