: Der Mann mit der Pauke schweigt
■ Wolfgang Neuss, der Kabarettist der Nachkriegsjahre, das beliebte öffentliche Ärgernis, ist tot
„Nestbeschmutzer“, „Schandschnauze“, „Mann mit der Pauke“, „Kellerkind“, „Drogenfetischist“ - für Wolfgang Neuss gibt es viele Namen. Mit seinem Einmannkabarett und seinen Sprüchen war er ein populäres Ärgernis im Nachkriegsdeutschland. Seit gut 15 Jahren zurückgezogen lebend, offen seinen Hanfkonsum kultivierend, tauchte Neuss in letzter Zeit nur hin und wieder mit bissigen, für viele aber auch wirren Auftritten auf. Am Freitag starb Neuss im Alter von 65 Jahren an Krebs.
Im Himmel ist seit Freitag abend die Hölle los: Einer der tollsten Springteufel hat seine irdische Hülle abgestreift und sich ins Reich der Geister aufgemacht - Wolfgang Neuss ist tot. Er wollte noch nicht, was er mit LSD im Sitzen tausendfach geübt hat - Sterben -, doch der Geselle Krebs, den er langsam wegmeditieren wollte, ließ ihm keine Zeit mehr. Einmal hat Wolfgang Neuss seinen Körper verstümmelt 1943 schoß er sich den Zeigefinger der linken Hand ab, um nach ersten Versuchen als Frontkomiker wieder ins Lazarett zu kommen („Die Angst trieb mich zum Fortschritt“) - ein zweites Mal wollte er das nicht tun. Sein letztes Wort war 'Warte‘, so titelte die 'Bild'-Zeitung zum Tod des „bekannten Kabarettisten“ - eine bessere Botschaft hätte Wolfgang Neuss nicht hinterlassen können. Auch wenn sie, wie viele seiner Botschaften, dem Zufall geschuldet war - es sollte kein Arzt zu ihm gerufen werden trotz all seiner Schmerzen.
„Warten“ (und Sehen) ist das, was Neuss seit seinem Ausstieg aus dem Machen vor mehr als 15 Jahren, betrieben hat. Und weil er auch ab und zu einmal etwas öffentlich gesagt hat seit seinem Rückzug ins Warten und Sehen, sehen viele in ihm einen kleinen Seher. Mit diesem zahnlosen Fleischergesellen aus Breslau verliert Berlin und der Rest der Kulturwelt eine der schärfsten Intelligenzbestien, ein Medium, das kein Schriftsteller war (obwohl er dichtete), kein Schauspieler, auch wenn er spielte, kein Kabarettist, weil der Begriff zu altfränkisch ist, eher dann schon Conferencier, ein Erzähler, ein rasend monologisierender Rapper, ein Ripper sowieso, der erste Punk und der letzte Hippie der Republik, ein Vor- und Nachdenker, Abfahrer, Anmacher, ein kleines, aber konstantes öffentliches Ärgernis.
„Volksverräter“
Es ist hier nicht der Raum, die Etappen des Lebens und die Verdienste dieses großen kleinen Mannes nachzuerzählen, der sich vom Lazarettkomiker über den Knallchargen und spießigen Filmstar zum politischen Kopf und „Volksverräter“ (1962 verriet er per Anzeige den Mörder einer Durbridge-Serie), zum APO-Anmacher und schließlich zum „erleuchteten Humorsoldaten“ entwickelte. Kein anderer Satiriker der Nachkriegszeit wohl hat sich ernsthafter und konsequenter und mit so bissigem Humor mit dem Faschismus auseinandergesetzt. Von seinem Film Wir Kellerkinder (1960), an den außer Sein oder Nichtsein und Chaplins Diktator keine Komödie heranreicht, über die großen Soloprogramme Das jüngste Gericht und Neuss Testament bis zu den Texten in den 80er Jahren (Happy End Auschwitz, Endlösung-Auflösung): „Das, was wir Faschismus nennen, ist in Wirklichkeit nur eine ganz bestimmte Form der Ekstase. (...) Wir leben mit dem Geist derer, die wir erschossen und erschlagen haben, wir wollten es immer werden und sind es nun, die klügeren Juden. Es dürfen wieder Witze gemacht werden, und zwar jüdische.“ Nicht wenige Linke und Neuss-Genossen von einst sahen in derlei Sprüchen eine grobe Verharmlosung, wenn sie sie nicht gleich als Drogendelirium denunzierten - Neuss nahm derlei Kritik verärgert, aber gelassen hin: Er war sich sicher, nicht zurückgeblieben, sondern dem allgemeinen Bewußtseinsmeer schlicht ein paar Tiden voraus zu sein. Neuss hat getroffen, weil er daneben lag, lag richtig, weil er quer dachte, war vernünftig, weil er spekulierte, und vorausschauend, weil er Vergangenheit bewältigte. Woher holte er das, morgens um acht nach der Lektüre der Morgenzeitungen als Frühstücksdiktator die Welt kosmisch genial und komisch zu erklären? „Auch beim Selbstgespräch kommt es auf die Qualität des Partners an.“ Und der Partner war bis zum letzten Tag auf seine Art immer genial. Auch wenn die Illustrierten das Bild von einem im Drogenelend verkommenen Medienliebling zeichneten, der nur wirres Zeug von sich gibt.
„Den Strick rauchen“
Daß er einen Teil seiner Zauberkunst dem Umgang mit Ekstase
-mit Drogen - verdankte, sich von den Alkohol- und Medikamentenorgien 20jährigen Filmstarruhms mit Haschisch kuriert hat - dieses „Ärgernis“ hat Wolfgang Neuss nie verheimlicht. „Auf deutschem Boden darf nie wieder ein Joint ausgehen“, entbot er R.Weizäcker 1983 in einer Talkshow zum Gruße - kurz darauf wurde er nach einer Hausdurchsuchung wegen Haschischbesitzes verurteilt. Daß er nichts anderes täte, als den Strick zu rauchen, an dem er sonst hängen würde - nämlich Hanf - vermochte den Richter nicht zu beeindrucken. Seine Meinung zum Thema „Überlebensmittel“ und zur Sinnlosigkeit des Drogenkriegs kam allenfalls in der taz zu Wort, ansonsten und öffentlich rechtlich war das „Drogenwrack“ höchstens als komische Nummer gut - Ungeheuer von Loch Neuss. Neuss war der erste Künstler, der vom deutschen Fernsehen wegen „Linkspropaganda“ ausgeblendet wurde (der SFB täuschte Sendeausfall vor). Neuss war der „Nestbeschmutzer der Nation“. Und als er Ende der 60er Jahre während des Vietnamkrieges auch noch einseitig gegen die Amerikaner Stellung bezog, flog er aus der Partei raus, in die er aus Sympathie für den Kanzlerkandidaten Willy Brandt gerade eingetreten war. „Wer nicht haargenau wie die CDU denkt, fliegt aus der SPD raus“, war damals sein Kommentar dazu.
Nachdem Anfang der Siebziger zu „links“ auch noch „Drogen“ kamen, hat Neuss sich endgültig inkompatibel gemacht für biederes Presse- und Unterhaltungswesen. Nicht weil er auf Statussymbole wie Gebiß oder Cadillac verzichtete, sondern weil sein Thema - Politik der Ekstase und Recht auf Faulheit - ein Unthema war. Und weil er es, ebenso unartig, in eine anarchische Form verpackte, in einen endlosen und anmaßenden Monolog, in dem Lokalklatsch und Globalstrategien, Privatclinch und Weltkrieg, Kleinklamotte und Großkultur, Tagesaktualität und Ewigkeit zusammengezogen sind - sein ehemaliger Assistent Horst Tomayer hat es so ausgedrückt: „Wenn's in der Sauna schneit, das ist Neuss.“ Und wenn zwischen purem Klamauk und hemmungsloser Klamotte plötzlich ein Kalauer auftaucht, der gleichsam holographisch vor Präzision, Klarheit und Witz funkelt, dann kann man ebenfalls davon ausgehen, daß es sich um „beautiful noise“ handelt.
Kein Lärm ohne noise
„Man erwartet etwas, wenn man 'Neuss‘ hört - Lärm oder Neues.“ Wolfgang Neuss hat beides reichlich gegeben, wunderbaren Lärm und überraschende Sicht-Weisen, Denk-Arten, Sprach-Spiele. Ein Rolling Stone, der auch nach seinem Abtritt von der Bühne nicht stehengeblieben ist, ein gassenhauender Bänkelsänger, der seine Moritaten orgelte, mit der Moral, daß nicht mehr die „ganze Geschichte“, sondern nur noch Fragmente möglich sind.
An allen Ecken und Enden zeugt das Neuss-Opus dieser Jahre von einer gängigen Sinnproduktion überlegenen Sensibiltät für das Mögliche, Machbare, Unumgängliche. Diese Sensibilität, da war sich der dogmatische Haschischgourmet ganz sicher, hat er erst mit Hanf kultiviert und nur durch tägliche Schwerstarbeit erhalten: indem er diesem Medium in größten Mengen zusprach. Um die totale Dekonzentration zu erreichen, die sich dann plötzlich auf einen Punkt, eine Erkenntnis, einen Spruch zusammenzieht: „Hat mal jemand 'nen Lappen - die Nordsee ist umgekippt“ - und mit Geistesblitzen dieser Art war Wolfgang Neuss vor allem den Kiffern und Psychedelikern der Republik Vorbild: ständig unter Volldampf, aber durchgehend voll auf Draht, frei delirierend, aber ständig auf den Punkt kommend, stets wiederholend, aber immer spiralistisch transformiert. Nicht nur die erweiterten Bewußtseine wußten diese Neusssche Meisterschaft zu schätzen, oft genug, bei Spaziergängen im Charlottenburger Kiez beispielsweise, kam ein ganz normales Muttchen von nebenan, und lobte „ihren Wolfgang“ für eine seiner jüngsten Äußerungen. Seine Reisen fanden im Kopf statt und führten weit weg - und trotz seiner „Schandschnauze“ wußten viele Berliner, daß er zu ihnen gehört. Daß das „Heimatmuseum Charlottenburg“ hinter seiner Wohnungstür jetzt verwaist ist, läßt nicht nur seine engen Freunde und Verwandten trauern. Jedenfalls solange bis sie ihn wieder im geistigen Ohr haben: „Keine Sorge, wir leben immer!“ Wie die hienieden ohne diesen Sprudelkopf auskommen und in welcher Transformation der Geist von Kaiser Neuss I. wiederkehrt - warten wir's ab mit einem seiner eigenen Sprüche: „Ich bin kein Beispiel. Ich bin ein Vorspiel.“
Mathias Bröckers
Bücher von und über Neuss:
Neuss Testament, Das jüngste Gericht (Athenäum), Der gesunde Menschenverstand ist reines Gift (Heyne 1985), Tunix ist besser als arbeitslos (Rowohlt 1986), Das Wolfgang-Neuss -Buch, Neuss Zeitalter (Verlag 2001); Gaston Salvatore: Der Mann mit der Pauke, Biographie nach Tonbandprotokollen (Rowohlt)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen