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HERZ AFRIKA

■ Katharina Meldners „Planet“ in der Galerie Zellermayer

Blättern in Meyers Lexikon, Ausgabe 1920: unter den pergamenten knisternden Seiten verbergen sich kolorierte Abbildungen. Sternbilder, Pantoffeltierchen, geografische Karten, Versteinerungen. Als Kind starrte ich fasziniert darauf, ohne verstehen zu wollen, was ich sah. Das Vorkommen der Bilder im Lexikon garantierte, daß es alles dort Abgebildete wirklich gab und daß es so und nicht anders aussah.

Erst die Schulzeit erschütterte die Liebe zu den Bildchen und das Vertrauen in die Fähigkeit optischer Sehhilfen, genauer, weiter und tiefer bis zum eigentlichen Kern der Dinge mit den Augen dringen zu können. Trotz verzweifelten Draufstarrens half mir keine Landkarte im Atlas zu erraten, was ich aus dem Geografie-Buch über das Land hätte lernen sollen; nichts verrieten die grün-braunen Muster über die Wirklichkeit dort. Kein Präparat unter dem Mikroskop war jemals so schön gemustert und zart gefärbt wie im Biologiebuch. Leuchtende Sterne entpuppten sich als Trugbilder von Himmelskörpern, die es in Wahrheit schon gar nicht mehr gab.

Für die Zeichnerin Katharina Meldner haben die Darstellungsformen der Naturwissenschaften ihre ästhetische Faszination behalten; in Atlanten, Botaniken, astronomischen Karten usw. entdeckt sie Formen und Ausdrucksreichtum. Sie holt in ihre Bilder den Mythos der Naturwissenschaften zurück, die Geheimnisse des Lebens zu fassen. In einem verwirrenden Spiel mit den Dimensionen und Perspektiven nimmt sie den Formen ihre Eindeutigkeit. Indem sie aber die Projektionen vieler Bedeutungen zuläßt, werden die Zeichen wieder zur Spur des Lebendigen.

Für die Installation „Der Planet“ hat sie 35 Zeichnungen zusammengehängt, die sich wie die Sequenzen in einem Film ablösen. Es beginnt mit einer zerspringenden Platte, deren Teile als Kontinente auseinandertreiben. Geografische Formen verselbstständigen sich: Afrika wird zum organischen Zentrum. Katharina Meldner erzählt mir von dem ältesten homoniden Schädel „Lucy“, den ein Paläontologe in Afrika entdeckt hat - dies nahm sie als eine Bestätigung für ihre Sicht von Afrika als Ursprungsort des Lebens. Sie findet in den Umrissen des Kontinents die Gestalt des Herzens wieder oder versetzt ihn als zentrales Segment in einen Schädel. Die Konturen können aber auch zu den Rändern eines bodenlosen Loches werden, eines saugenden Nichts. Fest umrissene Objekte verkehren sich in Negativformen und die Festigkeit der Dingwelt zerfasert, wird dünn und trügerisch.

Die Gestalten der einzelligen Lebewesen wiederholen sich bei Meldner als Universen; Adern, durch die ein pflanzliches Blatt Wasser transportiert, verwandeln sich in die spröden, scharfkantigen Risse im Eismeer. Netze von Linien und Punkten: Sternbilder, Pläne für mechanische Konstruktionen, Graphiken über die Bewegungsenergie im menschlichen Körper. Nur mit weißer Kreide auf schwarzem Grund markiert liegen die vielen möglichen Lesarten der Zeichen in ihrer Abstraktion.

Meldner evoziert den Eindruck, als würde man von oben auf die Landschaften stürzen und durch ihre Räume hindurchfallen. Es entsteht in den Serien eine den Betrachter hineinziehende Sogkraft; er durchquert die Bildwelten wie im Traum vom nicht endenden Fall. Die objektivierenden Darstellungsformen der Wissenschaft verwandeln sich in eine Beschreibung subjektiver Erlebnisse. Die Fähigkeit der Zeichen, Erkenntnis zu vermitteln und komplexe Zusammenhänge visuell zu verdichten, wird rückgebunden an die eigenen Erfahrungen des Interpreten.

Katrin Bettina Müller

Katharina Meldner „Der Planet“, Galerie Zellermayer, bis 1. Juli

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