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 ■  Aus Brüssel Andreas Zumach

Zwei reich beschenkte Zwillinge an ihrem fünften Geburtstag hätten kaum mehr strahlen können als der bundesdeutsche Kanzler und sein Außenminister gestern mittag. Vor den in und ausländischen Journalisten bei der deutschen Abschlußkonferenz des Brüsseler Nato-Gipfels berichteten sie „höchstzufrieden“ vom „schönsten Geschenk, das sich das westliche Bündnis zu seinem 40. Geburtstag selber gemacht“ habe: „Gestärkt, einig und geschlossen“, so Kohl, gehe die Allianz „in ihr 5. Jahrzehnt“. Mit dem „vom Bündnis einhellig übernommenen“ (Kohl) Bush-Vorschlag für die Wiener Verhandlungen endlich gegenüber Gorbatschow aus der Defensive gekommen, das „von uns vorgeschlagene“ (Genscher) „Gesamtkonzept“ endlich verabschiedet und vor allem: darin enthaltene Formulierungen zur Frage atomarer Kurzstrecken, die „voll auf der Linie des Koalitionspapiers vom 27. April liegen“. Beide zeigten sich zuversichtlich, daß es auf Basis der Bush-Initiative zu „baldigen“ Verhandlungen über atomare Kurzstreckenverhandlungen kommt, auf Grund des Zeitplans der Bush-Initiative für die Wiener Verhandlungen. Kohl rühmte ausdrücklich die „besonderen Verdienste Genschers“ um dieses Ergebnis und betonte die „glänzende Zusammenarbeit“. Journalistenfragen nach etwaigen Widersprüchen, der Möglichkeit einer dritten Null-Lösung oder den unterschiedlichen Parteipositionen von FDP und CDU/CSU prallen an diesem Tag ab. Der Kanzler und sein Außenminister - ein Herz und eine Seele, als habe es die monatelangen Konflikte in der Koalition um die Raketenfrage nicht gegeben. Kohl und Genscher bemühen sich am Ende dieses mit großer Spannung und Skepsis erwarteten Nato-Gipfels gemeinsam, den durch „Dank für das große Verständnis der allermeisten Nato-Partner“ (Kohl) nur mühsam verbrämten Eindruck zu vermitteln, als habe sich die Bundesregierung im Bündnis auf ganzer Linie durchgesetzt. „Die allgemeine Erwartung an den Gipfel war eine Zustimmung zur Raketenmodernisierung ohne Verhandlungen. Rausgekommen ist die Zustimmung zu Verhandlungen ohne Modernisierung“ erläutert Genscher nach Abschluß der Pressekonferenz die Gründe für seine Zufriedenheit. Dabei hatte es zu Beginn der Gipfeltagung am Montag morgen gar nicht nach der Möglichkeit einer gemeinsamen Nato-Formulierung in der Raketenfrage ausgesehen. Genscher-Sprecher Croborg verbreitete beim ersten Briefing für die über 200 bundesdeutschen Journalisten eher Skepsis. Zur gleichen Stunde wiederholte Großbritanniens Premierministerin Thatcher während der ersten Plenarsitzung der Staats- und Regierungschefs ihre bekannte harte Haltung gegen die baldige Aufnahme von Verhandlungen über atomare Kurzstreckenraketen und schloß eine 3. Null-Lösung „unter allen Umständen“ aus. Darüber hinaus forderte sie die „ausdrückliche Unterstützung des Gipfels für Forschungs- und Entwicklungsarbeiten der USA für eine Lance-Nachfolge-Rakete. Am späten Vormittag beauftragten die Chefs eine Arbeitsgruppe mit der Formulierung einer Kompromißvorlage bis zum Nachmittag. Für die Bundesregierung nahm der außenpolitische Kanzlerberater Teltschik daran teil. Doch das Interesse der über 1.700 Journalisten aus aller Welt war zu dieser Zeit längst umgeschwenkt. Präsident Bush stellte vor den US-Medien und via Fernsehen ins Nato-Hauptquartier endlich die Einzelheiten seiner „Initiative“ vor, über die es seit Tagen zahlreiche Spekulationen gegeben hatte. Die gewünschte Wirkung trat ein. Der Gipfel hatte ein neues Thema, die Schlagzeilen der Welt gehörten für einen Tag dem US -Präsidenten, der hofft, damit endlich aus dem Schatten Gorbatschows hervorzutreten. Viele US-Korrespondenten zeigten sich positiv überrascht. Das hatten die meisten nach den schwachen ersten vier Monaten ihres neuen Präsidenten nicht erwartet. „Wenigstens bei den Public Relations können wir mit Gorbatschow mithalten“, lautete der Kommentar vieler US-Kollegen, die in ihren Medien dann entsprechend eifrig zur Stilisierung Bushs zum Gipfelhelden beitrugen. Wenn die Bush-Initiative auch nicht „der bisher tollste, kühnste und dramatischste Abrüstungsvorschlag des Westens“ ist, als die Bonns Regierungssprecher Klein sie im Laufe des Montag immer wieder rühmte, etwas mehr als Public Relations ist Bushs Vorschlag schon. Immerhin hatte sich die Nato bislang geweigert, bei den Wiener Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa (VKSE) auch über Reduzierungen von Truppen zu reden. Übrigens vor allem auf Druck der Bundesregierung hin, was Bonner Vertreter in Brüssel in diesen Tagen nicht mehr wahrhaben wollen. Auch zur Einbeziehung von Flugzeugen war das westliche Bündnis bislang erst in einer späteren VKSE-Phase bereit. Ob der von Bush vorgeschlagene Zeitrahmen von maximal zwölf Monaten für die Aushandlung eines Wiener Vertrages und höchstens drei Jahren für dessen vollständige Umsetzung realistisch ist, wurde in Brüssel angesichts der komplizierten Materie von vielen Fachleuten, darunter bundesdeutschen Militärs, heftig bezweifelt. Doch für den Gipfel erzeugte Bushs Vorstoß die notwendige Dynamik, zumindest für einen Formelkompromiß in der Kurzstreckenproblematik. Bonn, und vor allem Genscher, so war von Delegationen wie Beobachtern allenthalben zu hören, stände isoliert da, wenn es sich jetzt einem Kompromiß verweigere. Bisher von Bonn als feste Bündnispartner unter den Kontinentaleuropäern gezählte Staaten begannen zu wackeln. Kohl, so ist zu hören, war schon am Montag nachmittag bereit, einem Kompromiß, der Verhandlungen über Kurzstreckenraketen an ein im Rahmen von Bushs Zeitplan erzieltes Wiener Ergebnis knüpft, zuzustimmen. Doch Genscher war die Initiative des US -Präidenten „zu vage“. Er verlangte mehr zeitliche Festlegungen und Konkretisierungen. Nach Aussagen von Teilnehmern der internen bundesdeutschen Beratungen knisterte es zeitweise heftig zwischen den beiden. Kohl löste das Problem, indem er Genscher in die Beratung der Außenminister schickte, die die ergebnislos gebliebene Experten-Arbeitsgruppe ersetzte, und selbst zum Abendessen der Regierungschefs ging. Für den frühen Abend angekündigte Pressekonferenzen u.a. von US-Außenminister Baker werden immer weiter verschoben und schließlich ganz abgesagt. Erst gegen vier Uhr hatten sich die Außenminister geeinigt. Doch um ganz sicherzugehen, wollte Großbritanniens Außenminister Howe erst noch das OK seiner Chefin einholen. Die stimmte schließlich gegen halb sieben in der Frühe zu. Das noch fehlende Kapitel „Substrategische Nuklearstreitkräfte“, des „Gesamtkonzeptes“ konnte endlich gedruckt werden. Wie hochzufrieden auch Frau Thatcher war, machte sie gestern mittag ebenfalls auf einer Pressekonferenz deutlich. Unter Verweis auf entsprechende Textstellen (siehe Dokumentation auf dieser Seite) beschrieb sie die „gemeinsame Haltung der Allianz wie folgt: Atomare Kurzstreckenwaffen seien „auf Dauer unverzichtbar für die Nato“, selbst bei „drastischer konventioneller Abrüstung in Europa“. Verhandlungen kämen erst in Frage nach einem Wiener Vertragsabschluß und wenn dessen Umsetzung „auf dem Wege sei“. Bis zu einem Vertragsabschluß gebe es aber„noch kolossale Probleme“ und danach ebensolche Hürden bei der Verifikation der Verschrottung von Waffen und Auflösung von Truppenverbänden, die ja nicht einfach nur hinter den Ural zurückgezogen werden dürften. Als Ergebnis von Verhandlungen kämen allerhöchstens eine „teilweise Reduzierung“, auf „gar keinen Fall eine dritte Null-Lösung in Frage“. Dies erklärte auch Präsident Bush. Die tatsächliche Reduzierung von Atomwaffen auf westlicher Seite erfolge erst nach der „vollständigen Umsetzung eines Wiener Vertrages und erst wenn die UdSSR mit ihren Atomwaffen auf das Nato-Niveau von 88 Werfern runtergegangen sei. Diese Positionen hätten „auch Kohl und Genscher unterschrieben“, erklärte Frau Thatcher sichtlich und hörbar triumphierend. Das allein zähle „und nicht, was anderswo geredet wird“. Der Kanzler und sein Außenminister saßen zu diesem Zeitpunkt längst im Flugzeug nach Bonn, wo sie bereits gestern nachmittag Präsident Bush empfingen.

Gipfelresümee eines bundesdeutschen Nato-Offiziers: „Der Streit im Bündnis wird munter weitergehen.“

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