piwik no script img

Beifall für Angriff auf Sacharow

■ Volkskongreß vor dem Abschluß / Wieder scharfe Debatten zwischen Reformern und Konservativen

Berlin (ap/afp/taz) - Stehende Ovationen erntete ein junger Abgeordneter auf der gestrigen Sitzung des Moskauer Volkskongresses für seine heftigen Vorwürfe gegen den Wissenschaftler und Deputierten Andrej Sacharow. Sein Vorwurf wog schwer: Sacharow habe die Armee beleidigt. In einem Interview mit einer kanadischen Zeitung habe er behauptet, sowjetische Piloten hätten Kameraden erschossen, die sie nicht mehr vor der Gefangennahme durch die Mudschaheddin in Afghanistan retten konnten. Zum ersten Mal bei einem öffentlichen Auftritt zeigte sich Sacharow nach den Angriffen des jungen Komsomolzen sichtlich nervös.

In seiner Replik bezeichnete er den Krieg in Afghanistan als „verbrecherisches Abenteuer“. Der Vorwurf, sowjetische Soldaten hätten Kameraden getötet, sei Gegenstand einer Untersuchung, deren Ergebnisse er nicht vorgreifen wolle. Vor Journalisten erklärte er dann, die Reaktion der Konservativen im Saal sei offensichtlich einstudiert gewesen.

Mit dieser und anderen hitzigen Debatten ging der Kongreß der Volksdeputierten am Freitag in seinen letzten Sitzungstag. Überraschend sollte noch am Abend das Plenum des Zentralkomitees zusammenkommen, um über die Ergebnisse des Kongresses zu beraten. Am heutigen Samstag soll dann die konstituierende Sitzung des Obersten Sowjet stattfinden. Außerdem steht offenbar eine Umbildung der Regierung unmittelbar bevor.

Im Mittelpunkt der Debatten und Beschlüsse der letzten beiden Tage hatten die Einsetzung und Arbeit mehrerer Komissionen gestanden. Die Parlamentskommission zum Hitler -Stalin-Pakt wird Politbüromitglied Jakowlew leiten, gab Vizepräsident Lukjanow am Freitag bekannt.

Die Kommission soll die Frage untersuchen, ob die baltischen Länder gezwungenermaßen oder freiwillig 1940 Mitglieder der Sowjetunion wurden.

Noch am Donnerstag nachmittag kam es zu heftigen Auseinandersetzungen über die Zusammensetzung zweier Untersuchungskommissionen, die sich mit der Arbeit der Korruptionsfahnder Telman Glidian und Nicolai Iwanow und um die Frage der Verantwortlichkeit für die blutige Niederschlagung der Demonstration in der georgi Fortsetzung auf Seite 2

FORTSETZUNGEN VON SEITE 1

schen Hauptstadt Tiflis kümmern sollen. Unter den Buhrufen der Konservativen beschuldigte der Leningrader Staatsanwalt Nicolai Iwanow Generalstaatsanwalt Sucharow, die Korruptionsaffären zu vertuschen. „Er hat 64 Untersuchungsrichter kaltgestellt, die an einem Bericht über die Korruption in Usbekistan arbeiteten, und hat die Freilassung von zwei früheren hochrangigen Führern bewirkt, die wegen Korruption inhaftiert waren.“ Als abgestimmt wurde, waren nur 61 Abgeordnete gegen die vom Präsidium vorgeschlagenen 17 Kommissionsmitglieder. Versöhnt hatte viele Abgeordnete, daß der renom

mierte Historiker Roy Medwedew zum Vorsiztenden der Kommission gewählt werden soll. Emotionsgeladen verlief auch die Debatte um den Einsatz der Sondertruppen am 9. April in Tiflis. Zu Beginn fragte ein Mitglied der litauischen Volksfront, Sajudis, ob die Armee-Einheiten aufgelöst würden, die in Tiflis eingesetzt worden waren. Bisher ist noch nicht geklärt, wer den Einsatzbefehl gegeben hatte, ob es die georgischen Behörden oder die Zentrale in Moskau war. In seiner Darstellung der damaligen Ereignisse erklärte Vizepräsident Anatolij Lukjanow, die georgische Führung habe die notwendigen Maßnahmen beschlossen, „ergänzende und extreme Maßnahmen“ von seiten des Zentralkomitees jedoch als „im Moment nicht notwendig“ bezeichnet.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen