Becker am saitenen Faden

French Open: Sabatini und Agassi ausgeschieden, Becker entkommt im kanzlerhaften Glauben  ■  Aus Matti Lieske

Der Kreis schloß sich im fünften Satz. „Fuck“, brüllte Boris Becker aus vollem Halse, weil die Zuschauer zu laut lärmten. „Fuck off“, hatte er sie bereits im ersten Satz beschieden, als sie ihn auspfiffen, weil er eine Linienrichterentscheidung anzweifelte. Der Grund seiner verbalen Ausflüge ins Reich der Sinne, die völlig außer acht ließen, daß die Amtsprache bei den French Open selbstverständlich Französisch ist, war jedesmal der gleiche: Es stand schlecht um ihn.

Dabei hatte er das Match gegen den Argentinier Guillermo Perez-Roldan (19) ganz gut begonnen, 1:0 geführt und zwei Breakbälle gehabt. Als die versaubeutelt waren, schlich sich Ungemach ein in sein Spiel und sein Gemüt. Gegen das sichere Grundlinienspiel des 21. der Weltrangliste, einen ausgesprochenen Sandplatzspezialisten, den er jüngst zweimal geschlagen hatte, fand er diesmal kein Mittel. Becker begann zu experimentieren, versuchte mitzuspielen, dann schnelle Gewinnschläge, schließlich Stopps - doch alle Experimente schlugen fehl; schon war der erste Satz mit 3:6 entfleucht.

Auch Beckers Selbstgespräche waren nicht gerade dazu angetan, ihn aufzurichten. „Was mach ich denn?“, schalt er sich verzweifelt und blieb die Antwort schuldig: „Was man falsch machen kann, mach ich falsch.“ Zu Beginn des zweiten Satzes kam der Regen, „der halbe Matchwinner“ Becker). Der Weltranglistenzweite aus Monaco hatte Zeit, sich zu beruhigen, und als die fünfzehminütige Zwangspause vorbei war, lief plötzlich alles besser.

Mit 6:4, 6:2 holte er sich die nächsten beiden Sätze, erst dann fand sich wieder der Wurm ein. Den vierten Durchgang gewann der kampfstarke Argentinier, und auch im fünften Satz zog Perez-Roldan zügig davon.

Becker Schicksal in diesem Turnier hing am saitenen Faden, aber für solche Fälle hat der 21jährige eine geradezu kanzlerhafte Devise: „In solchen Momenten muß man fest an das Gute glauben.“ Er befolgte seinen Ratschluß, glaubte tief und fest, und glich schließlich mit einer schnurgeraden Vorhand die Linie entlang zum 5:5 aus, als der Argentinier den Punkt schon sicherglaubte - „der Schlüsselpunkt zu seiner Niederlage“ (Becker).

Nach einem verwandelten Matchball zum 7:5 verharrte Becker sekundenlang mit hochgestrecktem Zeigefinger, als stünde er für das Denkmal des unbekannten Musterschülers Modell, eine Siegerpose, die er später mit Kräftemangel erklärte: „Nach so einem Match kannst du nicht mehr herumhüpfen.“

Andere zeigten entschieden weniger Glauben an das Gute. Der gottgläubige Andre Agassi etwa verlor sozusagen gegen seinen Stallgefährten, Jim Courier, „zweite Geige“ (Agassi) in der berühmten Tennisschule des Floridaners Nick Bollettieri, Sylvia Hanika hatte gegen Jana Novotna keine Chance und, um die argentinische Pein an diesem Tag zu steigern, verabschiedete sich auch Gabriela Sabatini aus dem Turnier. Gegen ihre Angstgegnerin Mary Joe Fernandez, US-Bürgerin aus Santo Domingo, spielte sie wie das Kaninchen gegen die Schlange. „Ich war so nervös, daß ich nicht laufen und die Bälle nicht schlagen konnte“, sagte Sabatini später. Ergebnis der geheimnisvollen neunundneunzigminütigen Lähmung: 4:6, 4:6.

Fast hätte Albertor Mancini das Desaster des argentinischen Tennis vervollkommnet. Nach sicherer Führung von 2:0 Sätzen, 4:1 Spielen und 40:15 Punkten begann er gegen Jakob Hlasek plötzlich haarsträubende Fehler zu machen, die der gründliche Schweizer, der immer alle fünf Sätze eines Matches ausnutzt, in zwei Satzgewinne verwandelte. Mancini, den sogar Lendl und Wilander fürchten, fing sich gerade noch rechtzeitig, um den entscheidenden Durchgang mit 6:4 zu gewinnen.

Allein Steffi Graf (19) und die fünfzehnjährige Monica Seles zogen unbeirrt ihre Bahn, und wenn sie so weitermachen, winkt ein interessantes Halbfinale zwischen dem alten und dem neuen Wunderkind des Welttennis, was beweist, daß selbst der deutsche Schlager manchmal recht hat: „Wunder gibt es immer wieder.“