: Wem glaube ich, wenn's um Politik geht?
... fragt Jürgen Weidlich, erster stellvertretender Chefredakteur der 'Jungen Welt‘, Organ des Zentralrats der FDJ, in seinem Kommentar zu den Ereignissen in China ■ D O K U M E N T A T I O N
Der Aktuellen Kamera oder der Tagesschau? Den Frühnachrichten des Berliner Rundfunks oder denen von Rias 2? Vertraue ich den Berichten von DDR-Fernsehkorrespondent Mathias Ehrich, den Berichten von 'adn'-Korrespondent Otto Mann, der nun schon viele Jahre in China „zu Hause“ ist, ein exzellenter Kenner von Sprache und Land, oder glaube ich den Berichten von Jürgen Bertram, Korrespondent des Westfernsehens an selber Stelle? Wem glaube ich also, wenn's um Politik geht? Die Frage steht. Denn die Berichte beider Seiten über die Vorgänge in Peking unterscheiden sich gerade jetzt nicht irgendwo in der fünften Stelle hinter dem Komma, sondern grundsätzlich wie Tag und Nacht.
Die Schlagzeilen bei uns:
Volksbefreiungsarmee Chinas schlug konterrevolutionären Aufruhr nieder. Die Aufrührer beabsichtigten den Sturz der sozialistischen Ordnung. Konterrevolutionäre haben Armeefahrzeuge beim Anmarsch auf den Tiananmen demoliert, Soldaten getötet, den Sitz von Partei und Regierung angegriffen, Krankenwagen auf der Fahrt in die Ambulanz behindert. Illegale Organisationen haben auf dem Tiananmen Hieb- und Stichwaffen verteilt. Deswegen hat die Armee eingegriffen, für den Schutz der sozialistischen Ordnung.
Und die andere Seite:
Panzer überrollten unbewaffnete Demonstranten, Armee-Einsatz führte zu grauenvollem Blutbad. Faschistisches Vorgehen. Chinesische Kommunisten haben das Feuer auf die Zukunft eröffnet. Chinas Zukunft dunkelrot. Das Land ist in eine totalitäre Diktatur zurückgefallen.
Der Unterschied in der Berichterstattung hier und drüben ist deutlich, aber nicht verwunderlich. Schon seit Wochen überhäufen die Westmedien die chinesische Führung mit Ratschlägen, was angesichts der Studentendemonstrationen zu tun sei. USA-Präsident Bush forderte die Studenten auf, für jene Dinge, „an die sie glauben, zu kämpfen und geradezustehen“. Gerüchte vom „Machtkampf“ in der chinesischen Führung waren willkommene Depeschen westlicher Agenturen. So wird angeheizt! 'Die Welt‘ schrieb von einer vorrevolutionären Situation. Wobei die Revolutionäre natürlich diejenigen sind, die zum Aufruhr gegen die Kommunistische Partei aufriefen und die Konterrevolutionäre jene Politiker, die an der Spitze Chinas stehen.
Wohlgefällig werden seit Monaten Zensuren verteilt: die guten für die, die auf dem Tiananmen-Platz durchhielten, Losungen gegen die Regierung schrien, die schlechten für die, die zu Ruhe und Besonnenheit aufriefen. Und das waren in den letzten Wochen viele Chinesen. Der Allchinesische Gewerkschaftsverband und der Kommunistische Jugendverband riefen ihre Mitglieder auf, ihre Plätze in der Arbeit und beim Studium einzunehmen. Chinas Kommunisten wandten sich gegen eine extreme Minderheit, die die Unruhe anzettelte. Und: Es gelte, sorgfältig zwischen den Studenten und der extremen Minderheit von Leuten zu unterscheiden, die das Land ins Chaos stürzen wollten. Über solche Reaktionen der chinesischen Seite wurde im Westen so gut wie nichts berichtet. Das war uninteressant, denn nicht der Stabilisierung Chinas als sozialistisches Land galt das Augenmerk westlicher Politik, sondern seiner Destabilisierung. In der Hoffnung, daß die Reformen für den Sozialismus hinüberwachsen zu Reformen für ein bürgerliches China nach westlichem Vorbild. Und welch Hohn: Die Kommunistische Partei Chinas solle diesen Prozeß zum bürgerlichen Liberalismus auch noch führen. Nun, da das Gegenteil eingetreten ist, gilt der ganze Haß - siehe eingangs erwähnte Losungen vom Faschismus in China - der Kommunistischen Partei. Man merkt in solchen Momenten sehr deutlich: Wo die Sache nicht im Interesse bürgerlicher Demokratie verläuft, wird das Reporter-Mäntelchen der Demokratie und Menschlichkeit schnell zu eng, und der Propagandaknüppel, mit dem man nun auf die chinesische Führung einschlägt, lugt sichtbar hervor.
Um eines klarzustellen: Niemanden lassen die Ereignisse vom Tiananmen-Platz unberührt. Jener Platz, den ich noch von einem China-Besuch zu Beginn der achtziger Jahre als einen zutiefst friedlichen Platz in Erinnerung habe. Einen Platz, wo Kinder die schönsten Drachen der Welt steigen ließen. Und als mich vor wenigen Wochen, Anfang Mai, ein chinesischer Kollege zu Hause besuchte, da sprachen wir sehr lange über das, was die Studentenunruhen in China auslösten. Immer in der Hoffnung, daß das sozialistische China seinen Weg meistern werde. Ich weiß um den Standpunkt meines Freundes und vieler anderer Chinesen in dieser Situation. Und gerade die Schwere des Augenblicks gemahnt, nicht zu vergessen, wo Ursache und Wirkung eines Konflikts liegen. Die Ursachen für die Auseinandersetzungen in China liegen für mich nicht im Sozialismus, sondern bei jener extremen Minderheit, die Chaos stiften will - gegen den Sozialismus. Weil ich weiß, daß in der Nachrichtengebung unserer Korrespondenten Ursache und Wirkung - im Unterschied zu westlichen Berichten - nicht verwechselt werden, vertraue ich unseren Berichten. Auch und gerade dann, wenn sich die Ereignisse überstürzen, die Informations- und zugleich auch die Desinformationsflut steigen.
Wie hieß es in einem Bericht des chinesischen Fernsehens? „... Die Gewalttaten der Aufrührer in der Zeit zwischen drei und vier Uhr morgens sind nur ein Teil der Aktionen gewesen. Doch damit haben sie ihre ganze Grausamkeit und Brutalität gezeigt. Mit diesen Handlungen seien ihre vorgeblich patriotische Haltung, ihr Wunsch nach Demokratie, Freiheit und Menschenrechten Lügen gestraft worden.
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