: „Die Massaker-Armee steckt in der Klemme“
Ein Gespräch mit Professor Hans Martin aus Bochum, führender Sinologe der Bundesrepublik und Verfasser einer Deng-Biographie / Die Auseinandersetzungen in der politischen und militärischen Führung seit vergangenem Samstag / „Jetzt hat die Armee das Sagen“ ■ I N T E R V I E W
taz: Läßt sich die Situation in China überhaupt vom Ausland aus einschätzen?
Hans Martin: Wir haben hier einen sehr guten Nachrichtenüberblick, zumal wir auf die chinesische Presse in Hongkong zurückgreifen können, die alle Informationen aus China sammelt, sichtet und verbreitet - übrigens auch nach China hinein. So wissen wir auch über die Interna ziemlich gut bescheid, sogar besser als die Menschen in Peking selbst.
Kann man noch von einem Machtvakuum in der chinesischen Führung sprechen oder haben die Hardliner um Staatspräsident Yang Shangkun ihre Position jetzt gefestigt?
Wir können jetzt sagen, wie die Entscheidungsprozesse in der Parteiführung abgelaufen sind. Es gab ungefähr zur Zeit des Gorbatschow-Besuchs eine erste große und harte Auseinandersetzung in der politischen Führung, ob man die Armee einsetzt, um endlich aufzuräumen. Deng war für den Einsatz der Armee und machte sich auf die Reise nach Wuhan und anderen Städten, um Truppen heranzuholen.
Das war das Überraschende: Es stellte sich heraus, daß Dengs Amt als Vorsitzender der Militärkommission weit mehr als nur ein Ehrenamt ist, es ist mit Entscheidungsgewalt verbunden. Während Deng in der Provinz war, wurden die politischen Auseinandersetzungen geführt. Zhao Ziyang setzte sich zunächst mit seinem Konzept durch, die Truppen nicht zu rufen, und erst in einer größeren Konferenz unterlag er. Dann bot er seinen Rücktritt an. Zwar stimmte Li Peng dafür, doch die Mehrheit wollte nicht, daß Zhao geht. Bei der zweiten Abstimmung wurde dann beschlossen, das Militär einzusetzen. Zhao wußte, das war jetzt das Ende, und ging als Privatperson, nicht als Parteichef - auf den Tiananmen und erklärte fast unter Tränen, er komme zu spät und dies sei „das letzte Mal, daß ich euch sehe“. Der Satz ist von den Medien nicht übertragen worden.
Gab es gegen den Beschluß keinen Widerstand von Armeeoffizieren?
Es gab ganz starke Gegenkräfte innerhalb der Armee, die sich nicht einsetzen lassen wollten. Es gab einen offenen Brief von 260 hohen Offizieren, zwanzig Offizieren im Generalsrang und sieben Generälen, darunter der frühere Verteidigungsminister, die alle sagten: „Wir dürfen das nicht machen.“ Und: „Wir können das nicht verstehen.“ Das war praktisch eine Befehlsverweigerung. Dann wurde die dafür zuständige Armee eingesetzt, also die 38., in der die Kräfte gegen den Einsatz sehr stark waren. Das waren die Bilder vom Samstag: Die Soldaten wurden von den Studenten eingekreist und aufgeklärt, also moralisch entwaffnet. Diese Einheit war später auch physisch nicht mehr zu benutzen, sie wußte über Peking und die Probleme zu gut bescheid, auch weil sie in dieser Gegend ansässig war.
Also rechnete die Führung am Samstag tatsächlich mit der Loyalität der 38.Armee?
Natürlich! Der Einsatz war kein Spiel, wie es oft dargestellt worden ist. Die 38.Armee hatte Waffen dabei. Es gibt diesen Ausspruch von Deng: „Und wenn auch zehn- oder zwanzigtausend umkommen, so haben wir dann wieder zwanzig Jahre Ruhe und Ordnung.“ Das zeigt, wie sehr Deng in stalinistischen Kategorien denkt. Wie eine solche Fehleinschätzung einem Mann, der doch historische Größe hat, unterlaufen kann, ist mir noch ein Rätsel. Er scheint in Denkvorstellungen zu leben, die sich nicht der neuen Zeit anpassen können. Daß Intellektuelle ihre Meinung sagen müssen und dürfen, kann er nicht verstehen. Für ihn scheint das schon ein Anzeichen von Chaos zu sein.
Die 38.Armee wurde dann zurückgerufen, das heißt, sie war unbrauchbar und wurde ersetzt durch die Truppen, die Deng bestellt hatte, darunter diese Rambozambo-Armee, die vermutlich von der vietnamesischen Grenze und der inneren Mongolei abgezogen worden ist. Eine Armee von Bauernburschen, die keine Ahnung hatten, was in Peking passiert. Man kann sicherlich annehmen, daß es eine unglaubliche Wut über die Ohnmacht dieser allmächtigen Führer gab, die sich sechs Wochen lang diesen Zirkus auf dem Tiananmen ansehen mußten.
Dann tauchte das Wort der „Konterrevolution“ auf - das schärfste Wort überhaupt in China - und wurde für die Gruppe um Zhao geprägt. Da wußte man, es gibt jetzt schwarze Listen. Der intern zirkulierende Schuldkatalog Zhaos liest sich wie ein vollendetes Reformprogramm (vergl. Taz vom 2.Juni „Die Lehre der zwei Glockenschläge“, Anm.d.Red.).
Wie kam es dann zur Spaltung der Armee?
Die Truppenteile, die von Anfang an gesagt hatten, das machen wir nicht mit, haben jetzt ihrerseits Peking eingekreist. Deswegen heute diese Situation, daß Panzer gegen Panzer stehen: Die Massaker-Armee steckt in der Klemme und soll von den anderen entwaffnet werden.
Weshalb wurden die Soldaten am Mittwochmorgen vom Tiananmen abgezogen?
Die ziehen in die Schlacht. Die 27.Armee wird von außen bedroht, ist eingekesselt und muß ihre Tanks an die Ausfallstraßen abziehen.
„Einkesselung“, das hieße, die Massaker-Armee wäre auch in der militärischen Defensive?
Das ist schwer zu überschauen. Es kann sein, daß sich die moralische Empörung bis in die Armeeführung fortsetzt und die sagen kann: Wir sind dreizehn Divisionen und ihr eine einzige. Dann könnte es zu einer Verständigung zwischen den Armeeteilen kommen. Schlimm wäre es, wenn sie ihren Kampf vor der Stadt oder sogar in der Stadt austragen müßten. Aber auf alle Fälle ist jetzt nicht mehr die Zeit der politischen Auseinandersetzung: Die Armee hat jetzt das Sagen. Die Gerüchte über einen möglichen Nachfolger von Zhao - all das sind Papierspielchen, die Armee ist jetzt am Drücker.
Damit ist die Frage, ob Deng noch lebt oder schon gestorben ist, für den weiteren Fortgang der Entwicklung nebensächlich? Ist die Unruhe in China auf die großen Städte beschränkt? Welche Funktion haben die ländlichen Gebiete innerhalb der Auseinandersetzungen?
Die Berichterstattung macht den Fehler, zu sehr auf Peking zu schauen. Die Unruhe hat die ganzen Großstädte erfaßt. Unter den Massakertruppen waren Soldaten aus Sichuan. Als das in Sichuans Provinzhauptstadt Chengdu bekannt wurde, ging die lokale Bevölkerung auf die Straße und wurde von der Armee niedergeschossen. Es gab 300 Tote. Über das eigentliche Land wissen wir noch sehr wenig. Die Arbeiter haben sich schon mit den Studenten solidarisiert, die Bauern noch nicht. In Schanghai wurden Trauerkränze aufgestellt, das ist allein schon ein Zeichen des Aufruhrs.
Oder nehmen wir die Botschaften. Als die Trauernden am Montag zur chinesischen Botschaft in Bonn marschierten, wurden ihnen die Tore aufgemacht und Vertreter der Studenten der neugegründeten Vereinigung durften ihre Kränze dort niederlegen. Es kam gar nicht zu einem Wortwechsel zwischen Studenten und den Botschaftsangehörigen - alle weinten nur.
Interview: Alexander Smoltczyk
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen