: Konstruktive Desaster
■ Oliver Sacks: „Der Tag, an dem mein Bein fortging“
Zum Auftakt empfängt den Leser ein Wort des unerschrockensten Selbstforschers, den die Geschichte des europäischen Geistes kennt: Michel de Montaigne, der Zeitgenosse aus dem 16.Jahrhundert, wird da zitiert, er könne sich guten Gewissens nur einem Arzt anvertrauen, der „alle Krankheiten, die er heilen wolle, selbst gehabt“ habe. Nun, sich um des gesteigerten Einfühlungsvermögens willen selbst zu verstümmeln, ist natürlich nicht jedermanns Sache (wo doch der werdende Medicus - wie man weiß - während seiner Ausbildung ohnehin jeweils diejenige Krankheit hypochondrisch durchleidet, die am Vortag auf dem Lehrplan stand). Aber manchmal kommt ja der Zufall zu Hilfe und beschert auch einem Arzt „konstruktive Desaster“, die sein bisheriges Weltbild nachhaltig verändern.
So erging es zumindest Oliver Sacks, dem amerikanischen Neurologen und Psychologen, der mit seinen Fallgeschichten (auf deutsch unter dem Titel Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte erschienen) auch bei uns einen unerwarteten Erfolg verzeichnen konnte. An seinen ebenso spannenden wie erschreckenden Schilderungen aus der klinischen Praxis fiel die außerordentliche Empathie auf, mit der es Sacks gelang, die „Sprache“ der jeweiligen Krankheit zu enträtseln. So wirr die Äußerungen jeweils auch schienen, mit denen seine Patienten ihre veränderten Wahrnehmungen und Gefühle beschrieben, Sacks nahm sie stets ernst und entdeckte so die darin verborgene Wahrheit, das Ringen von Menschen um ihre Identität.
Sacks neues Buch wurde vor den Fallgeschichten geschrieben und in den USA auch vorher veröffentlicht. Der Rowohlt -Verlag reicht es jetzt nach, und mit dem deutschen Titel Der Tag, an dem mein Bein fortging wird auch stilistisch versucht, an den Erfolg des ersten Buches anzuknüpfen. Diese Rechnung wird wahrscheinlich nicht aufgehen, obwohl dem Buch eine weite Verbreitung zu wünschen ist. Aber die „Fälle“ waren sicher nicht zuletzt deshalb ein solcher „Verkaufsschlager, weil bei der Leserschaft auf eine „Abnormitäts-Lüsternheit“ gerechnet werden konnte (die Monster kommen nicht aus dem Weltall, sondern aus der neurologischen Abteilung. Das gleiche Motiv ist gewiß auch für den Erfolg des Films Rain Man mitverantwortlich). Der Inhalt des neuen Buches ist weniger spektakulär, doch nicht weniger interessant oder wichtig, wird doch hier von einer der Grundlagen des Sackschen Einfühlungsvermögens berichtet: der Erfahrung am eigenen Leibe.
Bei einer einsamen Bergwanderung in den norwegischen Fjorden wird der Autor schwer am Bein verletzt. Nur durch Zufall entdeckt und geborgen, erlebt er - der sich schon aufgegeben hatte - die Rettung als „Wiedergeburt“. Die Verletzung - ein Sehnenabriß - ist sehr schmerzhaft, scheint aber nicht weiter kompliziert. Sacks wird in ein Londoner Hospital geflogen, die nötige Operation verläuft chirurgisch betrachtet - einwandfrei. In den darauffolgenden Tagen und Wochen verdichtet es sich jedoch für den Patienten zur Gewißheit, daß auf geheimnisvolle Weise sein Bein „fortgegangen“ ist: Er kann nur die Zehen noch bewegen, der Rest ist taub und „tot“. Aber das ist noch nicht alles: Sacks hat auch das „innere Bild“ seines Beines verloren; er hat das Gefühl, dieses „Ding in Gips“ gehöre nicht ihm, ja, er habe nie ein linkes Bein besessen. Mit seinen Beschreibungen stößt er bei Ärzten und Pflegepersonal auf Unglauben und Unverständnis.
Diese Erfahrungen irritieren ihn zunehmend und treiben ihn in eine existentielle Krise, Alpträume und Panik setzen ihm zu, er verliert buchstäblich den Boden unter den Füßen. Nach einiger Zeit entschließt sich Sacks jedoch, den Abgrund, in den er gestürzt ist, kennenzulernen. Und wie er in der Dialektik von Passivität und Aktivität, von Sich-Fügen und Aufbegehren, von Regression und erneutem Erwachsenwerden, von „Sterben“ und „Wiedergeburt“ gesundet - wie er zunächst die Welt mit seinem wiedererwachenden Bein neu „vermessen“ muß, bis er schließlich seine „innere Melodie“ findet, die ihn wieder „in Gang bringt“ und seinen Weg verändert weitergehen läßt - dies alles ist mit großer Genauigkeit und viel Humor beschrieben.
Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte vermittelte dem Leser die Erkenntnis, daß wir „auf des Messers Schneide leben“ und jederzeit „durch eine leichte Hirnverletzung oder einen kleinen Tumult unserer zerebralen Chemie“ aus der Normalität stürzen können. Der Sturz, den Sacks jetzt anhand seiner eigenen Erfahrung beschreibt, hat einen banaleren Anlaß, und die Sache geht gut aus: Seine „Auferstehung“ hinterläßt ein intensiveres Lebensgefühl als der Autor es jemals spürte. Doch dadurch kann uns diese Schilderung näher rücken, denn es sind nicht die fernen „Ver -rückten“, die durch die Hölle von Identitätsverlust und Selbstentfremdung gehen, sondern ein ansonsten gesunder „normaler“ Mensch.
Noch dazu ist es ein Arzt, der hier zum Patienten wird, der erleben muß, wie die eigenen Gefühle nicht in die Krankenhauswelt passen und darum als „Einbildung“ abgetan werden. Die äußeren Wunden werden hervorragend versorgt, mit seinem beschädigten Innenleben wird der Patient allein gelassen. Erst gegen Ende der Genesung im Rehabilitationszentrum erfährt Sacks von seinen Mitrekonvaleszenten, daß seine Erfahrungen keine Ausnahmeerscheinung darstellten, sondern bei schweren Verletzungen eher die Regel sind (allgemein bekannt sind nur die sogenannten Phantomschmerzen nach Amputationen). Der Autor erfährt aber während seiner Krisen auch die Ursache ärztlicher Gefühlskälte - ihre Schutzfunktion nämlich - an sich selbst: Jedes Mal, wenn er sich besonders bedroht fühlte und ihn die (Angst-)Gefühle zu überwältigen drohten, wurde er in seiner Phantasie zum Arzt oder Wissenschaftler, der „rein sachlich“ seinen eigenen „Fall“ analysierte und diagnostizierte: „Und was nun? Hatte ich das Pötzl -Syndrom? Jedenfalls ließ sich mein Fall nicht von diesem Syndrom unterscheiden. Man hätte mich als Demonstrationsobjekt für dieses eigentümliche 'neuro -existentielle‘ Leiden hernehmen können, und einen Augenblick lang stellte ich mir vor, wie ich, Professor Doktor Sacks, einen faszinierenden Fall dieses Syndroms vorführte - mich selbst! Aber dann wurde mir plötzlich bewußt, daß es sich bei diesem 'faszinierenden Fall‘ tatsächlich um mich selbst handelte, um einen sehr verängstigten Patienten.“
Sacks Buch mündet in einer Kritik der konventionellen Neurologie (aber seine Schlußfolgerungen lassen sich auf andere medizinische Bereiche ausdehnen): Sie orientierte sich in der Regel an „Funktionen“ (Sprach-, Erinnerungs-, Bewegungsvermögen) und deren Störung bzw. Ausfall, für die „freie Erfahrung“ sei darin kein Platz. „Das 'Du‘ oder 'Ich‘, das überall implizit enthalten ist, wird verleugnet oder nicht zugelassen.“ Sacks fordert dagegen „eine Neurologie des Selbst, der Identität“, in der das elementare Erleben der Patienten (und des Arztes) nicht ausgespart bleibt.
Als Neurologe erinnert er an die Erkenntnis des Psychologen Freud, das Ich sei vor allem ein körperliches. Dieses Ich stellt keine Anhäufung von Funktionen dar; es ist stets bedroht und kann durch körperlich oder seelisch bedingte Traumata in eine existentielle Krise geraten. Diese Gefährdung kann man verleugnen oder man kann sich ihr stellen.
Montaignes Wunsch nach einem Arzt, der alle Krankheiten am eigenen Leib durchmacht, ist also - symbolisch betrachtet durchaus keine Überforderung: Der Arzt (oder das Pflegepersonal oder der gesunde Mitmensch) muß sich, um sich einfühlen zu können, den eigenen Abgründen stellen. Die Lektüre dieses Buches von Oliver Sacks wäre immerhin ein Beginn.
Peter Tomuscheit
Oliver Sacks: Der Tag, an dem mein Bein verlorenging, Rowohlt-Verlag 1989, 32 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen