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Die Halluzinationen der Propheten

■ Julian Janes‘ Studie über den Ursprung des Bewußtseins

Ein alter Mann sieht einen Dornbusch brennen und hört eine Stimme, die ihn zum Führer seines Volkes beruft; ein babylonischer König sieht eine Flammenschrift an der Palastwand, die ihm kein Schriftkundiger zu deuten vermag; ein ehemaliger Karawanenräuber hört die Stimme des Erzengels Gabriel, die ihn zum Propheten einer neuen Religion beruft.

Ein 30jähriger, von Geburt an tauber Mann, sieht regelmäßig Putten und zwergenhafte Menschenwesen um sich her und glaubt sich im Besitz eines Zauberstabes, mit dem er so gut wie alles, was er will, bewirken könne. Ein anderer Mann hört ständig die Stimme seiner nichtanwesenden Tochter rufen: „Er wird verbrannt!“ und die Stimme seiner Mutter rufen: „Er wird nicht verbrannt!“

Die ersten drei Beispiele beziehen sich auf Moses, Nebukadnezar und Mohamed, die beiden letztgenannten auf Menschen, bei denen eine Erkrankung des schizophrenen Formenkreises diagnostiziert wurde.

Sind die Ähnlichkeiten zwischen den Visionen in der Geschichte der alten Völker und den Halluzinationen Schizophrener bloßer Zufall oder steckt mehr dahinter?

In seinem 1976 in Amerika und im vergangenen Jahr endlich auch in Deutschland erschienenen Buch vertritt Julian Janes die provozierende These, daß der archaische, frühgeschichtliche Mensch gar kein Bewußtsein hatte, sondern nur eine „bikamerale Psyche“, das heißt, es gab einen Lenker: die rechte Gehirnhälfte, und einen, der gehorchte: die linke Gehirnhälfte.

Diese Stimmen, die den archaischen Menschen der Frühgeschichte in Streßsituationen den Weg wiesen, sind für die Stimmen von Engeln, Göttern und Dämonen gehalten worden.

Der Autor stützt seine These mit einer Fülle von religionshistorischem und kulturhistorischem Materiel. So erklärt er die Privatgötter der Babylonier, die sogenannten „ili“, und die Ka-Seelenfigur der alten Ägypter als Repräsentanten dieser Stimmen.

Nach Janes‘ Ansicht hängt das Auftreten dieser Götterstimmen eng zusammen mit dem Problem des erweiterten Gruppenumfangs der frühen Kulturen.

Das bedarf einer näheren Erklärung: Um die Mitte des Mesolithikums, also zwischen 10.000 und 8.000 Jahren vor unserer Zeitrechnung, paßte sich der Mensch am Ende der Eiszeit den Umweltbedingungen besser an und lebte in Gruppen mit stabiler Bevölkerungsdichte, deren Mitglieder eine höhere Lebenserwartung hatten.

Dies führte zu einer Verfestigung der zwischenmenschlichen Beziehungen, was wiederum die Gemeinschaft veranlaßte, die einzelnen Mitglieder der Gruppe auseinanderzuhalten.

Mit dem Eigennamen - so meint Julian Janes - entstanden die Totenkulte, der Mensch konnte sich besser an verstorbene Freunde und Verwandte erinnern, weil sie ja einen Namen, also eine Identität hatten. Der Name intensivierte die Objektbeziehung, die gegenüber dem stärksten und fähigsten Menschen der Gruppe, dem König, besonders ausgeprägt war.

Seine Stimme, die für den Zusammenhalt des Stammes sorgte, wurde noch nach seinem Tod halluziniert, sie wirkte weiter gesellschaftserhaltend, sorgte für die kontinuierliche Tradierung moralischer und ethischer Prinzipien. Julian Janes schreibt dazu: „Wir dürfen hier allerdings nicht dem Irrtum verfallen, uns diese Gehörhalluzinationen als Reproduktionen faktisch geäußerter königlicher Kommandos vorzustellen. Zwar mag die Sache so angefangen haben, doch es gibt keinen vernünftigen Grund, der dagegen spräche, daß die halluzinierten Stimmen mit fortschreitender Zeit auch 'denken‘ und Probleme lösen konnten, obzwar alles unbewußt. Die Stimmen unserer zeitgenössischen Schizophrenen 'denken‘ genausoviel und oftmals noch mehr als ihre Worte. Demnach vermochten die Stimmen, die die Menschen der Frühzeit hörten, mit der Zeit auch zu improvisieren und Sachen zu sagen, die der König selbst nie gesagt hätte. Freilich dürfen wir annehmen, daß all diese neu hinzutretenden Halluzinationen stets einen engen Zusammenhang zum Persönlichkeitsbild des realen Königs wahrten. Der Sachverhalt ist der gleiche, wie wenn wir heute intuitiv wissen, wie ein abwesender Bekannter in dieser oder jener Situation höchstwahrscheinlich urteilen würde.“

Der zunehmende zwischenstaatliche Handel, besonders auf seiten der Assyrer im mesopotamischen Raum, führte - so argumentiert Janes weiter - schließlich zu einer Lockerung der Partnerbildung zwischen Mensch und halluzinierter Stimme der Obrigkeit (sprich Gott). Julian Janes untermauert seine Thesen auch mit neurologischen und psychiatrischen Untersuchungen an Hypnotisierten und Schizophrenen. Er kommt zu dem Schluß, daß es sich bei den halluzinierten Stimmen der bikameralen Psyche um Verschmelzungen von gespeicherten Erziehungserlebnissen handelt, die im rechten Schläfenlappen organisiert und irgendwie in die linke dominante Hemisphäre übermittelt wurden. Und er führt dazu näher aus: „Weiterhin formuliere ich die Hypothese, daß das aufkommende Bewußtsein unumgänglich nach Hemmung dieser in der rechten Schläfenrinde entspringenden Gehörhalluzination verlangte. Doch ist damit noch lange nicht geklärt, was genau das denn nun in neuroanatomischer Hinsicht zu bedeuten hat.“

Der Autor bekennt offen, daß er erst am Anfang seiner Forschungen steht, daß noch ein weiter Weg vor ihm liegt.

Julian Janes hat ein Buch geschrieben, das trotz seines abschreckenden Titels zu den anregendsten Sachbüchern der letzten Jahre gehört. Der Ursprung des Bewußsteins durch den Zusammenbruch der bikameralen Psyche bedeutet für viele Leser sicher eine Desillusionierung in bezug auf liebgewordenen Vorstellungen wie Gott, Erlösung und Pardies. Zu hart geht der Autor mit der Religion ins Gericht, als daß er erwarten könnte, überall auf bereitwillige Aufnahme zu stoßen. Schroffste Kritik und enthusiastische Zustimmung sind denn auch bisher die einzigen Reaktionen gewesen.

Die Zukunft wird zeigen, ob diese weitreichende Theorie über die Entwicklung des Bewußtseins Bestand haben wird oder nicht. Interessant scheint, daß sich bereits in der Geistesgeschichte des Orients Texte finden, die Professor Janes‘ Theorie der rechten Gehirnhälfte vorwegnehmen. Besagte Texte finden sich im Tibetischen Buch der Toten. Dort heißt es zum Beispiel an einer Stelle: „Sohn der Edlen, als äußerer Kreis um die dreißig schrecklichen Heruka -Gottheiten treten die achtundzwanzig machtvollen Gottheiten aus dem Inneren deines Gehirns hervor. Sie haben verschiedene Köpfe und halten verschiedene Waffen in den Händen. So begegnen sie dir als Erscheinungen. Habe keine Angst davor, denn was auch immer dir erscheinen mag, du mußt es als das Vermögen deiner Geist-Natur, als die Erscheinung deiner selbst erkennen!“

Soweit das Tibetische Buch der Toten. Es stammt aus dem achten Jahrhundert nach Christus.

Ango Laina

Julian Janes: Der Ursprung des Bewußtseins durch den Zusammenbruch der bikameralen Psyche, Rowohlt Verlag 1988, 559 Seiten, 58 Mark.

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