: Evangelisches Woodstock vorbei
Kanzler Kohl boykottierte Abschlußgottesdienst des Kirchentags / Veranstaltung mit IGFM geplatzt ■ Aus Berlin Petra Bornhöft
Das seichte Wohlgefühl der 160.000 BesucherInnen des gestern beendeten evangelischen Kirchentages trübt ein winziger Eklat. Erstmals seit 1949 mußte eine Veranstaltung abgebrochen werden. Nach einem Gerangel auf der Bühne verwandelten Demonstranten die geplante Podiumsdiskussion mit der rechten „Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte“ (IGFM) in ein Tribunal gegen den Verein. Kirchentagspräsident Simon mahnte die Medien später, den Kirchentag „nicht nach einzelnen Veranstaltungen zu beurteilen“, und attestierte dem Gesamtspektakel eine „politisch engagierte Frömmigkeit“. Fragen zum Tabuthema Rumänien würgte das Präsidium auf der Abschlußpressekonferenz hartnäckig ab.
Bis zuletzt hatten Lateinamerika-Gruppen gegen den Auftritt der IGFM auf dem Kirchentag protestiert. Unter Hinweis auf zahlreiche Äußerungen und Aktivitäten der Organisation kritisieren die Gruppen die IGFM als „Propagandisten des Krieges“ und „Hintermänner der Contras“, die Menschenrechte „für ihre Politik funktionalisieren“. Auch warnten IGFM -GegnerInnen die Kirchentagsleitung vor einem Konflikt während der Veranstaltung. Doch das Präsidium schaltete auf stur und ließ es beim Fortsetzung auf Seite 2
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Ausschluß der IGFM vom „Markt der Möglichkeiten“ bewenden. In die mit 4.500 Menschen voll besetzte Halle 25 hüpfte eine Theatergruppe in Militäruniformen. Nach ihrem Auftritt wollten die Beteiligten zwei Statements über die IGFM verlesen und dann diskutieren. Diese Planung verhinderte eine andere Gruppe von IGFM-KritikerInnen durch blitzartige Besetzung des Podiums. Chaos. Teile des staunenden Publikums sangen „Halleluja“, andere skandierten „Hoch die internationale Solidarität“. Über den Wogen ein verzweifelter Moderator, Professor Huber, Mitglied des Präsidiums, hinter ihm flüchtete der IGFM-Vorsitzende Jörn Ziegler durch einen Hinterausgang. In der nachfolgenden „Aufarbeitung der Erfahrung der Störung“ (Huber) bedachten die ZuhörerInnen jeden Beitrag mit Beifall, ungeachtet der gegensätzlichen Aussagen. Den IGFM-GegnerInnen gelang es, ihre Argumente so ausführlich darzulegen, „wie es in der Podiumsdiskussion nicht möglich gewesen wäre“, so ein Sprecher. Insofern verbuch
ten sie ihr Eingreifen als Erfolg.
Das zweite umstrittene Thema des Kirchentages - die Menschenrechte in Rumänien - interessierte weder Kirchentagsgruppen geschweige denn das Kirchentagspräsidium. 500 Menschen verloren sich am Freitag abend in der Halle, wo zu dem kuscheligen Titel Die rumänische Wohnung im europäischen Haus gesprochen werden sollte. Auf Druck der Evangelischen Kirche Siebenbürgens und nach dem Protest des rumänischen Botschafters in Bonn hatte die Kirchentagsleitung den deutsch-rumänischen Schriftsteller und Regimekritiker Richard Wagner ausgeladen. Noch am Nachmittag hatte ein Siebenbürger Kirchenmann gefleht, „auf keinen Fall eine Resolution gegen Rumänien zu verabschieden“.
Zu dem Verhalten der Kirchentagsleitung gegenüber Richard Wagner forderten im Namen des „Menschenrechtskomitees Rumänien“ Gisela Langhoff (amnesty) und Lukas Beckmann (Grüne) eine „öffentliche Stellungnahme“. Sie unterblieb ebenso wie eine Reaktion auf die Forderung des ungarischen Bischofs Harmati, die Kirche müsse „den Fall Rumänien wie Südafrika behandeln“. Harmatis bittere Klage
über „das Schweigen der ökumenischen Weltorganisationen“ zu Rumänien unterschlug die Nachrichtenredaktion des Kirchentages in ihrem Bericht.
Am letzten Gottesdienst vor dem Exodus der Christen beteiligten sich über 100.000 Menschen. Einer fehlte: Helmut Kohl. Beim letzten Kirchentag ausgepfiffen und der rot -grünen Stadt bekanntlich wenig zugetan, zog der Kanzler heimische Gemütlichkeit vor.
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