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Gorbatschow setzt auf Europa

Die gemeinsamen Erklärung von Kohl und Gorbatschow sprengt den Nato-Konsens  ■ K O M M E N T A R

Was soll sie nicht alles ein, die deutsch-sowjetische Grundsatzerklärung zur „Partnerschaft in Zukunft“: „Kursbestimmung“, die den Wunsch der Völker erfülle, eine bessere Zukunft zu bauen und „Meilenstein“ (Kanzler Kohl), „Vision für ein zukünftiges Europa“ (Außenminister Genscher), „historisches Dokument“ (Kanzlerberater Teltschik) und „Dicker Strich unter die Vergangenheit“ (Delegationsmitglied Potugalow).

Das alles kann diese Erklärung nicht sein. Das alles ist sie auch nicht. Die überschwenglichen Kommentierungen sollen ihre Bedeutung der Bedeutung des Gorbatschow-Besuches propagandistisch anpassen. Darüber hinaus hat sie vor allem eine Funktion: Sie unterfüttert das sich neu formierende deutsch-sowjetische Verhältnis theoretisch, und dies in einer für solche Kommuniques ungewöhnlich deutlichen Sprache.

Zunächst soll damit, dem Wunsch der Sowjets entsprechend, eine harmlos scheinende Lücke geschlossen werden. Die Vereinbarungen des Moskauer Vertrages von 1970 - mit seiner Anerkennung der Grenzen nach dem zweiten Weltkrieg - werden durch die förmliche Anerkennung dieses Vertrages als Grundlage der Erklärung nun auch von einem konservativen Kanzler bestätigt. „Die umfassende wirtschaftliche Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil, die auch neue Formen der Kooperation einschließt“, und der „Abbau von Handelshemmnissen“, „Friedlicher Wettbewerb“ etwa - solches bildet die Klammer vor den ebenfalls gerade unterzeichneten bilateralen Abkommen, auf deren Grundlage beispielsweise deutsches Kapital in der Sowjetunion gehegt und gepflegt werden soll oder sowjetische Fach- und Führungskräfte im kapitalistischen Wirtschaften unterrichtet werden.

Die Übernahme von sogenannten marktwirtschaftlichen Prinzipien durch Moskau auch in außenwirtschaftlicher Hinsicht ist aus dem Papier deutlich herauszulesen. Ein ausgeprägter Paternalismus der Bundesrepublik ist wohl allerdings Vater der Einschätzung von Politikern und Medien, in der Erklärung übernehme die Sowjetunion westliche Wertvorstellungen. Ständig angeführte Beispiele hierfür sind der Satz: „Der Mensch mit seiner Würde und seinen Rechten und die Sorge für das Leben der Menschheit müssen im Mittelpunkt der Politik stehen“, und der aufgeführte Grundsatz vom Selbstbestimmungsrecht der Völker. Letzteres in Anbetracht von Kolonialismus und westlichem Imperialismus als originären westlichen Wert zu bezeichnen, ist so überheblich wie unverschämt. Dennoch stellt der Verweis der Erklärung auf das Selbstbestimmungsrecht eine Bekräftigung der Gorbatschowschen Nationalitätenpolitik dar.

Gorbatschows inzwischen berühmtes Wort vom gemeinsamen Haus Europa bildet nur eine der ausführlichen Lobpreisungen Europas in dem Papier - und dies macht nur allzu deutlich, was Gorbatschow verhindern möchte: Nachdem die politischen und militärischen Grenzen zwischen den Blöcken zu bröckeln beginnen, will er nicht vor den neuen, hohen wirtschaftlichen Mauern stehen und ausgeschlossen bleiben. Mauern, die durch den Zusammenschluß der wirtschaftlich potenten Staaten Europas hochgezogen werden könnten. Bemerkenswert bleibt schließlich die Formulierung, militärische Potentiale müßten auf ein niedriges Niveau vermindert werden, das zur Verteidigung, nicht jedoch zum Angriff ausreicht. Dieser Gedanke liegt in der Nähe des bisher von der Bundesregierung abgelehnten Konzepts von der strukturellen Nichtangriffsfähigkeit. Ein Konzept, daß unter den Nato-Verbündeten nicht Konsens ist.

Ferdos Forudastan

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