: Ein Wahlkampf als speech-act
Die Wahlen zum Europaparlament sind ein sprachliches Ereignis ■ K O M M E N T A R E
Selten paarten sich während eines Wahlkampfes penetrante Medien-Vorberichterstattung mit völliger Indifferenz des Publikums. Bei den diesjährigen Europawahlen ist es ein Charakteristikum. Kein Blatt Europas, das nicht schon längst EG-Serien, -Dossiers und -Specials verbreitet hätte beschwingt von höchst löblichem Drang nach Gemeinschafts -Kunde - kein Provinznotabler, der sich nicht auf „Europa“ seinen Reim machen könnte und das Wort je nach Anlaß und Gusto mit Heimatroman oder „Silicon-Valley-Report“ füllen könnte. „Europa“ - ein Begriff, stufenlos regelbar zwischen Moderne und Tradition, zwischen einer geläuterten, höheren Form des Patriotismus und einem neuen Glauben an die Großmacht im Kampfe mit den beiden Supermächten USA und Japan; „Europa“ - nur ein Wort, das allem, und sei es noch so abgestanden, den Glanz des Modernen verpassen kann, zugleich kleinster Nenner und größte Allgemeinheit. Die WählerIn lauscht ergriffen, sammelt verständig die diversen Dossiers und läßt den Stimmzettel weiß. Denn auch bei Wahlpflicht in Belgien und Griechenland wird die Wahlbeteiligung am Sonntag drei Jahre vor dem Menetekel „1992“ nicht über 60 Prozent liegen. Wer wollte es den (Nicht-)WählerInnen verübeln, versuchen doch die leitenden Organe der Willensbildung kaum noch zu kaschieren, worum es ihnen am Sonntag wirklich geht: um ein nationales Stimmungsbarometer auf der Basis einer optimalen statistischen Masse. Allüberall wird Europa als Probebühne für nationale Politik benutzt. Wird Schönhuber den Kanzler kanten? Werden Frankreichs Junggaullisten die Altherrenliste Giscards überflügeln? Werden die Briten - just for fun einmal den Stab über zehn Jahre Thatcherismus brechen? Am 19. werden dann die neu verteilten Wahlfangquoten begutachtet - vom frischgewählten Europaparlament wird dann längere Zeit nichts mehr zu hören sein.
Weil es am 18.Juni um alles gehen soll, geht es um nichts: Politik wird in der EG-Kommission und im Rat gemacht und nach wie vor nationalstaatlich entschieden. Das Europaparlament wird nach seiner Meinung gefragt. Das ist alles. Die Wahlen zum europäischen Parlament sind deshalb kein politisches, sie sind - Rede- und Artikelflut weisen darauf hin - ein sprachliches Ereignis. Und darin liegt paradoxerweise gerade die Chance des Straßburger Parlaments. Denn wann jemals hat es auf diesem Kontinent ein Forum gegeben, in dem die Fragen der Zeit transnational debattiert worden wären? Ein gutbeheiztes Treibhaus, in dem nicht allein Politfossile überwintern und Nachwuchsherrscher erprobt werden, sondern wo in glücklichen Stunden auch wegweisende Ideen ausgebrütet werden, so in der Frage des Umgangs mit Gentechnologie und Hormonfleisch und des Ausländerwahlrechts. Gerade weil das Europaparlament frei von Macht, Entscheidungszwang und abseits der öffentlichen Aufmerksamkeit vegetiert, kann es eine Rolle spielen als Ort herrschaftsfreier Kommunikation mit Simultanübersetzung. In Straßburg sitzen entsorgte Bundespolitiker, greise Neofaschisten und junge Rechtsradikale, EG-feindliche Dänen, Bologneser Radikale und Pariser Salongrüne, leibhaftige Kommunisten und Kaisersöhne. Und sie reden und reden und reden..., und es ist gut so. Denn in Europa mangelt es nicht an Kapital oder Regelungen und Normen, sondern vor allem an einem: Ideen.
Alexander Smoltczyk
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