: „Nicht zu Sportrobotern degradieren“
Behinderte - „Wir sind die Praktiker“ - fordern von Wissenschaft und Industrie Gehör / Der Werbung für orthopädie-technische Produkte soll Information entgegengesetzt werden ■ Von Gunter Belitz
Dynamik, Aktivität, Flexibilität, Mobilität, High-Tech, Disign - Schlagworte aus dem Wortschatz der neudeutschen Yuppies? Nein, die Rehabilitationstechnik entdeckt die Werbung. „Wir erleben momentan eine rasante Entwicklung auf dem Markt für othopädie-technische Produkte“, sagt Prof. Georg Neff, ärztlicher Leiter des Reha-Abteilung des Oskar -Helene-Heims in Berlin. Klar, daß sich da vieles ändert. „Werbung wird notwendig, wenn Monopolstellungen aufgebrochen werden“. (Neff)
Die Profilierung des Leistungssports der Behinderten hat in den vergangenen Jahren einen Innovationsschub ausgelöst. Sportbezogene Verbesserungen von Basketball- und Rennrollstühlen sind längst, wenn auch leicht abgewandelt, im allgemeinen Rollstuhlbau übernommen worden. Sie haben zu einer erhöhten Bewegungsfähigkeit vieler Behinderter geführt. Am Beispiel der Prothetik verdeutlicht Neff, daß „bisherige Versorgungsprinzipien auf den Kopf gestellt sind“. Mit Prothesen zum Beispiel, die in der Bundesrepublik immer noch als „Gehhilfen“ verstanden werden, sprinten behinderte US-amerikanische Athleten ein 100-Meter-Rennen in elf Sekunden.
Neff begrüßt deshalb den verstärkten Wettbewerb in der Orthopädie-Technik und im Behindertensport als „Herausforderung für die deutsche Industrie“. Er warnt jedoch vor Werbestrategien, die aufs „Irrationale“ abheben und den Bedürfnissen der meisten Behinderten nicht gerecht werden. Bedenken, die auch Reinhild Möller hat, die Gewinnerin mehrerer Goldmedaillen bei Behinderten -Olympiaden: „Wir wollen nicht zu rüstigen Sportrobotern degradiert werden.“
Auch Michale Eggert, ehemals Berliner AL-Abgeordneter und selbst „Rolli“, ist das Werbe-Image behinderter SportlerInnen zuwider: „Kaum ein Behinderter kann und will ein Rollstuhl-Marathon-Man sein; für viele Rollis sind schon normale Bordsteine unüberwindbare Hindernisse.“
Schon einmal, nach den Ersten Weltkrieg, wurde am Bild des körperbehinderten Menschen und seiner technischen Hilfsmittel manipulativ gewerkelt. Die verstümmelten Frontsoldaten sollten - ausgestattet mit stählernen Arbeitsklauen und „eisernem“ Lebenswillen - die Schlachten an der Produktionsfront weiterkämpfen. Ihr Interesse an einem normalen Leben mit Behinderung wurde zum Zweck ihrer totalen Mechanisierung vergewaltigt: Der Kriegskrüppel wurde zum Homo Protheticus.
Angesichts der heutigen Vermarktungssituation fordert Eggert eine stärkere Position der AnwenderInnen orthopädie -technischer Produkte, nämlich der Behinderten selbst: „Wir müssen in die Entwicklung von Rollstühlen und Prothesen einbezogen werden. Wir sind die Praktiker, die einen Katalog von Qualitätsmerkmalen aufstellen und täglich testen können.“
Dr. Christa Kliemke vom Institut für Krankenhausbau der Technischen Universität Berlin plant bereits den Aufbau eines unabhängigen „Zentrums für technische Lebenshilfen“, in dem sich Betroffene umfassend informieren können. Eine solche Einrichtung ist auch der Wunsch von Prof. Neff, der ein „erhebliches Informationsgefälle“ zwischen Ärzten und Patienten feststellt. Karen Gesierich, amputierte Leistungssportlerin und Sportjournalistin in Köln, beschreibt ihre Erfahrungen: „Als bloße Patientin bin ich das obskure Objekt einer Schar von Ärzten und Orthopädie -Technikern, die mir eine Prothese 'verpassen‘, weil sie nicht mit mir, sondern über mich sprechen.“ Sie wünscht sich eine „gläserne“ Orthopädiewerkstatt, in der sie vorab über die Möglichkeiten und die Begrenzungen der orthopädischen Technik informiert wird.
Die Selbstbestimmung von Behinderten war den auch ein wichtiges Thema des Symposiums in Berlin. Erstmals nahmen behinderte Sportler am wissenschaftlichen Programm und an Rahmenveranstaltungen des Kongresses teil. Als hochinformierte Laien konnten sie den versammelten Medizinern, Sportwissenschaftlern und Pädagogen für deren zukünftige Forschung Anforderungsprofile stellen.
Denn schließlich sind es die Betroffenen selbst, die auf das Funktionieren ihres Körpers mit Behinderung existentiell angewiesen sind - und nicht Wissenschaft und Industrie.
(Der Autor, 26, war Weltmeister 1986 und Dritter bei den Paralympics im Hochsprung der Oberschenkelamputierten)
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