: „Mit Gorbatschow läßt sich die Revolution richtig feiern“
Gorbatschow auf der Bastille und in der Sorbonne / Vor den französischen Intellektuellen wirbt der Kreml-Chef für Zusammenarbeit zwischen der sowjetischen und der französischen geistigen Elite / Auch Regis Debray beklatschte den sowjetische Staatspräsidenten ■ Aus Paris Georg Blume
Eines wissen die Franzosen: So leicht läßt sich die Bastille nicht stürmen. Auch ein Michail Gorbatschow mußte diese Erfahrung machen. Dabei hatten ihm 3.000 Polizisten den Weg auf den berühmtesten Revolutionsplatz der Welt freigeräumt. Doch gerade darin lag die List der Pariser Machthaber.
Plötzlich stand der sowjetische Staatspräsident und Generalsekretär der KPdSU auf dem Platz der Bastille - nur das Volk fehlte. Gitterstäbe und Polizistenarme hielten es auf den Bürgersteigen und in den Nebenstraßen zurück. Da standen nun Michail und Raissa auf dem großen, menschenleeren Asphaltplatz mit der Revolutionssäule, um dort, wo die Freiheit in Europa geboren ist, die neuen Freiheiten im Osten, Perestroika und Glasnost, hochleben zu lassen. Vom Pariser Volk natürlich. Doch niemand rief nach ihnen. Hier und dort ertönte ein zaghaftes, aber erwartungsvolles „Gorbi, Gorbi“. Die Leute wußten ja nicht einmal, daß ihr Held schon da war. „Wie gefällt Ihnen die Bastille?“ ertönte die Frage eines Journalisten. „Ich kann ja gar nichts sehen“, entgegnete der Kreml-Chef.
Doch er ließ sich die Bastille trotz aller Schwierigkeiten nicht nehmen. So führte er die Journalisten, die ihm den Weg versperrten, in die Irre, simulierte eine schnelle Abfahrt und ließ seine Limousine just an der Seitenstraße halten, wo eine alte Dame gerade enttäuscht den Blick senkte. Drei Stunden habe sie nun gewartet, sei auch schon mit der Betriebsgruppe in die Sowjetunion gereist, murmelte Germaine Jacques, Angestellte der Französischen Elekrizitätsgesellschaft EdF. Und dann geschah das Wunder. Da kam Michail aus der Limousine gestürmt und gab ihr geradewegs die Hand. Genauso schnell war er wieder weg. Doch Germaine rief: „Welch wunderschöner Tag!“
Niemand soll also sagen, die Pariser hätten Gorbatschow nicht feiern wollen. „Die Revolution kann man doch nicht mit Bush oder Thatcher feiern. Die haben nichts Revolutionäres. Wenn schon, dann mit Gorbatschow“, behaupteten drei Gymnasiasten mit Blick auf die Revolutionsfeiern samt Weltwirtschaftsgipfel in der kommenden Woche. Natürlich wollte Gorbatschow in Paris dem Westen die Revolutionsshow stehlen. Das aber war mit Zug über die Bastille allein nicht getan.
1789 gab bekanntlich nicht nur der „Pariser Mob“ vom Armenviertel an der Bastille den revolutionären Ton an. Zu den Verbündeten gegen den König zählten auch die gehobenen Kleinbürger und Intellektuellen der Stadt. Sie traf Michail Gorbatschow am Mittwoch morgen in der Sorbonne-Universität. Dort war jene hohe Pariser Gesellschaft von Exguerillastar Regis Debray bis Yuppi-Kulturminister Jack Lang versammelt, die seit eineinhalb Jahrzehnten in der Regel nichts Gutes mehr im Osten wähnt. Denn gerade in Frankreich haben viele Intellektuelle, die in ihrer Jugend noch mit der KPF liebäugelten, diese Zuneigung schnell in Haß verdreht. Nicht umsonst gilt die Pariser Presse noch heute als die Perestroika-feindlichste des Westens. Kein einfaches Publikum erwartete Gorbatschow in der Sorbonne.
Die Luft stand still im großen Amphitheater der Prestige -Uni, als der allseits geschätzte Direktor des Pariser Instituts für internationale Beziehungen, Jean-Luc Domenach, das Wort ergriff und die aktuelle Schlüsselfrage nach Gorbatschows Einschätzung der chinesischen Ereignisse stellte. „Ihre Fragen sind wirklich exzellent“, würdigte der Kreml-Chef vorerst die Pariser Intelligenz. Dann sprach er von der Notwendigkeit der Nichteinmischung in die Angelegenheiten eines anderen Landes, aber auch vom Imperatif, die Konflikte zwischen Volk und Machthabern im Dialog zu lösen. „Glauben Sie mir“, setzte Gorbatschow schließlich hinzu, „uns liegt das Unglück vom Tiananmenplatz am Herzen. Wir müssen Vertrauen in die Völker haben. Wir haben volles Vertrauen in das französische Volk.“ Was folgte, war brausender Applaus. Ein Moment, in dem ideologisches Eis knackte. Sogar Regis Debray klatschte mit. Gorbatschows Vorschlag: eine von Franzosen und Sowjets eingeleitete „geistige Revolution unserer Epoche“. „Die intellektuelle Interaktion zwischen Franzosen und uns sollte zum Modell kultureller Beziehungen im gemeinsamen Haus Europa werden.“ Warum nicht? Schließlich hatte Gorbatschow in seiner Vorrede unmißverständlich durchklingen lassen, daß in Europa bisher einzig Franzosen und Russen zu wahrhaften Revolutionen fähig waren. Balsam selbstverständlich für die Pariser Ohren.
Vielleicht ist Frankreichs bisher so stocksteife Intelligenzija, die im Verhältnis zum Osten stets den „Antitotalitarismus“ predigte, jetzt tatsächlich zu neuen Einsichten bereit. „Niemand mehr wird die UdSSR als totalitäres Land bezeichnen“, bemerkte die Pariser Tageszeitung 'Liberation‘ auf der Suche nach dem französischen Zeitgeist.
Es ist wohl verständlich, daß vor dem Hintergrund solch geistig-revolutionärer Höhenflüge das diplomatische Geschehen um den Pariser Gipfel in den Hintergrund geriet. „Paris und Moskau haben sich viel zu sagen, weniger für heute als für morgen“, faßte denn auch die Tageszeitung 'Le Monde‘ die Gespräche zwischen Mitterrand und Gorbatschow zusammen. Denn immer noch will Frankreich nicht über seine Atomwaffen verhandeln. Und die wirtschaftlichen Beziehungen beider Länder hinken denen, die sich zwischen der Sowjetunion und der BRD oder Italien entwickelt haben, weit hinterher. Gemein hätten Mitterrand und Gorbatschow „ihren Geschmack für konzeptionelles Denken“, verlautete statt dessen aus dem Elysee-Palast. Gemeinsame Konzepte, versteht sich, brauchen Zeit und bedürfen keiner großen Erklärungen der Staatschefs. Die sollte es also in Paris nicht geben. Das hat manchen verwirrt. Denn in Bonn war es ja nun gerade anders gewesen. Nur ein alter Mann auf der Bastille ließ sich nicht stören. „Es lebe der Sozialismus“, sang er laut und unbekümmert, als der Gast aus Moskau schon längst wieder verschwunden war.
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