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■ Friedrich Kittlers Showdown - zeitachsenmanipuliert
Zur Kaffeestund‘ am Sonntag gab's eine Art Volkshochschulkurs zwecks „Einübung in einen informationstheoretischen Materialismus, der auf der Höhe der Dinge wäre“ mit praktischen Beispielen und Live -Schultafelanschriften: hear „Real Time Analysis and Time Axis Manipulation“ in 59 minutes! An Mikrofon und Kreide: Friedrich Kittler, Bochumer Showdown-Master der abendländischen Überflugstheorie und Chef-Scientertainer mit Hang zum Gesamtblickwerk im Verein der Freunde metadisziplinärer Literaturanalyse. Zum wiederholten Male synchronisierte er vorsätzlich und öffentlich Entitäten wie die Erfindung des Alphabets, die Kontingenzen des Dialekts (hier: wüstes Badensisch) und des Rauschens des Realen, den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, den Spielraum der Poesie bis hin zur Fourier-Analyse, zum Doppler-Effekt und schlimmerem (zumindest für den Soft-Scientist).
Denn: „Nur was schaltbar ist, ist überhaupt, und schaltbar ist nur das, was ein- und ausschaltbar ist“, lautet Kittlers einleitende Vorsorgeoperation. Und dies gelte, so der Nachwuchsphysiker weiter, auch und vor allem für die Zeit. „Zeitachsenmanipulation“ hieße demnach, einen zeitseriellen Datenstrom anders anzuordnen, während die „Echtzeitanalyse“ Laute in Geräuschspektren in derselben Zeit zerlegt, in der sie gesprochen werden. Die elementaren Manipulationen „Ordnen und Analysieren“ gehen dabei in der Zeit anders und schwieriger als im Raum von statten, weil Leerplätze dort Bewegung von vornherein möglich machen. Diese Leerplätze mußten jedoch etwa bei der ersten Manipulation in Form der Erfindung der Schrift, die jedem Element einer in der Zeit ablaufenden Redekette einen Raumplatz zuweist, als Leerzeichen erst zwischen die Buchstabenfolge geschaltet werden. In dem so eröffneten Spielraum konnten und können die Buchstaben wandern: „Poesie war wahrscheinlich nicht mehr und nicht weniger als die Maximierung dieses Spielraums.“ Und was dem Dichter des antiken Schriftmonopoli das Spiel mit Buchstaben und Wörtern war, sind in der Hackerordnung des späten 20Jahrhunderts die Operationen Swaping, Copying und Deleat.
Ausgeschlossen bleiben hier allerdings die Zufallsgebilde des Realen und des Dialekts, die - wie „bekanntlich“ (Kittler) der zweite Hauptsatz der Thermodynamik beweise zu immer größerer Unordnung tendieren und zu einer irreversiblen Entropie auf der Zeitachse führten. Deshalb sei unter den Bedingungen des Schriftmonopols jede Zeitachsenmanipulation sofort erkennbar und jeder Versuch der Manipulation - etwa eine Umkehrung der linearen Zeitachse von der Gegenwart in die Vergangenheit und mithin schon jeder Ansatz von geschriebener Geschichte - erhalte den Status einer literarischen Fiktion.
Doch während die Literatur nur diese geringen Eingriffsmöglichkeiten hat, von denen sie dann auch erzählt, sind die von technischen Medien ebenso wie deren Möglichkeiten der Bearbeitung von Zufallsereignissen unbegrenzt. So konnten etwa beim Grammophon (mit den quasi -olympischen Manipulationsdisziplinen: Schneller! Langsamer! Rückwärts!) zwar noch keine Teilsequenzen ausgetauscht werden wie in der Schrift, doch schon der Film mit seiner temporalen Syntax eröffnete auch diese Möglichlichkeiten. Beim Farbfernsehen und seiner Zeitversetzung von Signalen im Mikrobereich endlich verschafft nur die Zeitachsenmanipulation die Illusion von Echtzeit. Real Time Analysis hieße nämlich nichts anderes, als „daß Aufschub oder Verzögerung, Todzeit oder Geschichte schnell genug abgearbeitet werden, um gerade noch rechtzeitig nach Abarbeitung zur Analyse des nächsten Zeitfensters übergehen zu können“ - auch die Simulation habe ihre Zeit.
Jetzt allerdings ist - an dieser Nullstelle des technischen Wissens -, was den weiteren Verlauf des Vortrags angeht, für die willige Volkshochschülerin und weitere anwesende schöne Geister „wahrlich“ (Kittler) alles zu spät, denn nun reitet der Rastlose auf hochschlagenden Kurz-, Mittel- und Dauerwellen nebst passender Kamm-Funktion ins Reich der digitalen Signalverarbeitung und zwar mit Raketengeschwindigkeit, die wiederum „bekanntlich“ (ders.) am Doppler-Effekt ablesbar wird: „Wenn wir wissen, wann die Rakete kommt, wissen wir nicht mehr, was sie ist - wenn wir wissen, was sie ist, wissen wir nicht mehr, wann sie kommt.“ - Sprach unser vortragender unidentifizierter Marschflieger und brannte am „Umschweif“ (Haas) einer Weltkriegs-V2-Rakete noch schnell Gabors Unschärferelation, die Ambiguitätsfunktion und die Autokorrelationsfunktion ab. Da verschwand der Vortrag vom Bildungsschirm, um kurze Zeit später am Anfang der Enden von Pynchons Parabel - A screaming comes across the sky - einzuschlagen.
Gabriele Riedle
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