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Forschungsarbeit am eigenen Lebensrätsel

■ An der „Akademie für Arbeit und Politik“ lernen Nicht-Akademiker nach allen Regeln der Wissenschaft ebenso wie aus den Erfahrungen des Nachbarn

„In der Schule habe ich früher auswendig gelernt. In der Akademie habe ich begreifen gelernt.“

In der verstaubt-charmanten, holzvertäfelten Gemütlichkeit eines ausgedienten Bremer Gymnasiums sitzen zusammen um ein paar zum Kreis zusammenge

schobene Schulbänke: Eine Kauffrau, zwei Elektriker, ein Bauzeichner, eine Verwaltungsangestellte, eine Hausfrau, eine Umschülerin und forschen. Eine Universität hat keiner von ihnen je besucht. Trotzdem sind alle überzeugt: Um ihre Fragen zu beant

worten, ist wirklich Forschung nötig, harte, langwierige, kritische unterhaltsame, spannende, langweilige, mühsame, verunsichernde, rätselhafte, neigierig machende Wissenschaft.

Der Forschungsgegenstand: Die eigene Lebensgeschichte, be

rufliche Erfahrungen, familiäre Brüche, enttäuschte Hoffnungen. Die Arbeitshypothese: Irgendwie hängen die scheinbar privaten Erfahrungen, das Unbehagen an der eigenen Biografie zusammen mit den scheinbar fernen Entscheidungsprozessen in den Parlamenten, Wirtschaftsunternehmen, Kulturpalästen, Gewerkschaftssekretariaten und Parteizentralen. Gefragt ist: Wie?

An der Wandtafel hat die entscheidende Frage die Gestalt eines großen „V“ angenommen. Neben dem linken Schenkel stehen „Ökonomie“, „Politik“, Kultur“, neben dem rechten „Lebensformen“, Lebensstile“. „Einstellungen“. Im Scheitelpunkt unten steht ganz einfach eine der ältesten Fragen der Philosophie überhaupt: Was hält Subjekt und Objekt zusammen?

Erste Erkenntnis: Wenn das V stimmt, stimmt eine Illusion nicht mehr: Jeder Traum vom nur privaten eigenen Glück ist ausgeträumt. Irgendwie muß sich alles ändern, wenn man sich selbst ein bißchen ändern will. Und irgendwie entspricht das den Erfahrungen der TeilnehmerInnen. Eine drückt das so aus: „Am Anfang des Kurses stand bei mir ein Rumoren. Die Unzufriedenheit über mein eigenes Leben. Das Gefühl: 'Das kann nicht alles gewesen sein‘.“

Die Forschungsinstrumente: Alles, was irgendwie tauglich ist, die komplizierten Übersetzungsleistungen zwischen äußerer Erfahrung und persönlicher Verarbeitung begreiflich zu machen: die Erzählung des Kursnachbarn über die eigene Ehescheidung, den Krach mit dem Chef, die Schwierigkeiten mit den Kindern ebenso wie die wissenschaftliche Statistik über die Wahrscheinlichkeit von Atomkatastrophen, die schwierigsten soziologischen Texte genauso wie die Erinnerung an die eigene Kindheit, die Zeitungsreportage über Umwelt

zerstörung ebenso wie das persönliche Eingeständnis, Angst vor ihr zu haben (oder eben auch nicht, weil Wissenschaft, Fortschritt und Politik die Probleme schon lösen werden). Wer nach dreißig, vierzig Jahren endlich das eigene Lebensrätsel entschlüsseln will, darf in der Wahl seiner Forschungsmethoden nicht wählerisch sein. Alles was Erfolg verspricht, muß ausprobiert werden. Auch wenn es manchmal nur mit Lexikon und Fremdwörterduden weitergeht.

In der Akademie wird damit eine Methode angwendet, die früher auch in der Bremer Universität verwendet wurde, dort allerdings längst wieder aus der Mode gekommen ist: „Forschendes Lernen“. Denn um herauszubekommen, wie es mit einem selbst bestellt ist - so die These der Akademie reichen Selbsterfahrungsgruppen allein nicht. Es reichen aber auch nicht gewerkschaftliche Bildungsurlaube über Betriebsverfassungsgesetz und Betriebsräte und der Volkshochschulkurs zum Funkkolleg „Soziologie“ reicht auch nicht. Die Welt hat sozusagen nicht ausreichend Platz in ihnen. Und zweitens: Für braves Zuhören, Mitschreiben und Auswendiglernen gibts zwar Teilnahmescheine. (Selbst)Erkenntnisse gibt es so nicht.

Was die Bremer Akademie für Arbeit und Politik von anderen Weiterbildungseinrichtungen der Erwachsenenbildung unterscheidet, ist genau diese Erfahrung von TeilnehmerInnen und DozentInnen: Lernen fängt bei einem selbst an, tritt von dort eine Forschungsreise durch die weite

Welt der Widersprüche an, um unvermittelt wieder vor der Haustür des eigenen Ich zu landen. Und irgendwie stimmt das „V“ mit dem klassischen Balanceakt zwischen Subjekt und Objekt auch hier: Man ist wieder da, aber nicht mehr derselbe. Nicht einfach schlauer, sondern auch selbstbewußter, toleranter, diskussionsfreudiger und neugieriger. „Wie sehr man sich verändert hat, merkt man gar nicht. Aber die anderen merken es“, sagt Hermann C., einer derjenigen, die seit zwei Jahren jeden Montag in das Reiseabteil „Klassenzimmer“ eingestiegen sind.

Am Montag kamen die ersten nach zweijährigem Kursbesuch (vorläufig) ans Ziel. In der Bremer Glocke wurden den 19 TeilnehmerInnen feierlich und in Anwesenheit des stellvertretenden Universitätsrektors die Zertifikate überreicht und bescheinigt, daß sie 300 Kursstunden „Grundkenntnisse in Ökonomie, Soziologie, Politik und Geschichte“ erworben haben. Die „Zeugnisvergabe“ nutzten die TeilnehmerInnen gleich zu einem praktischen Beweis ihrer neuen Fähigkeiten: Sie funktionierten den „letzten Schultag“ um zu einer kritische Debatte über die Zugangsvoraussetzungen zu einem Studium an der Bremer Universität. Der Hintergrund: Alle wollen weiterlernen.

K.S.

Im Herbst beginnt ein neuer, zweijähriger Lehrgang der Akademie für Arbeit und Politik an der Bremer Universität. Die Teilnahme ist kostenlos. Nähere Informationen gibt es unter (0421) 2182903 oder 218120.

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