: Der Codex des deutschen Revanchismus
■ Aktuelle Gedanken zur „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ / Von Ralph Giordano
Kaum hatte CSU-Chef Theo Waigel auf dem Schlesiertreffen am 1.Juli das Deutsche Reich für keineswegs untergegangen erklärt und befunden, die Gebiete jenseits von Oder und Neiße gehörten zur „deutschen Frage“, da verschob auch schon Kanzler Kohl seine Polenreise. Bundespräsident Weizsäcker hatte darauf verzichten müssen, zum 50.Jahrestag des deutschen Überfalls nach Warschau zu reisen. Der Publizist Ralph Gordiano („Die zweite Schuld“) analysiert dieses „Mutter des neudeutschen Revanchismus gegen die Völker Osteuropas“, die „Charta der Heimatvertriebenen“ von 1950.
1. Auf dem letzten „Deutschlandtreffen der Schlesier“ in Hannover haben Sprecher von Vertriebenenverbänden und ihre Helfer aus den Landesministerien und dem Regierungskabinett abermals gefordert: „Deutschland in den Grenzen von 1937!“ und mit dieser Forderung die deutsche Frage als „offen“ erklärt. Das heißt: die Hupka, Waigel, Wilms und ihre Anhänger wollen die Ergebnisse des von eben diesem 37er -Deutschland vom Zaun gebrochenen Zweiten Weltkrieges nicht anerkennen und damit auch nicht die bundesdeutsch-polnischen Verträge von 1970. Sie spielen also weiter mit dem Feuer, und zwar öffentlich, heute, Mitte 1989.
Hier soll nicht noch einmal die aus dem hannoverschen Schlesiertreffen entstandene Debatte rekonstruiert werden. Mein Artikel will vielmehr eingehen auf den Ursprung, die Wurzel des Übels - auf die Charta der deutschen Heimatvertriebenen. Ich behaupte: Sie ist der Kodex des deutschen Revisionismus, seine eigentliche Verfassung und damit die Mutter des neudeutschen Revanchismus gegen die Völker Osteuropas.
Die Charta erblickte am 5.August 1950 das Licht der Öffentlichkeit, in Bad Cannstatt bei Stuttgart. Anwesend waren Mitglieder der ersten Bundesregierung, der Kirchen und Landesparlamente, und unterschrieben wurde sie von Vertretern der Landsmannschaften und des Zentralverbandes der Vertriebenen. Seither wird die Charta hochgelobt, ja gepriesen als ein Ausbund an politischer Vernunft und menschlicher Größe, eines der bedeutendsten Dokumente der Nachkriegszeit und „beispielhaft mit seinem moralischen Engagement für eine bessere Zukunft“ (Friedrich Zimmermann). Geradezu ritualhaft hervorgehoben aber wird dabei immer wieder der „Verzicht auf Rache und Vergeltung“.
Historische Unterschlagungen
Wer in diese Kerbe schlägt, kennt das Papier und seinen Wortlaut nicht. Denn die Charta der deutschen Heimatvertriebenen ist ein klassisches Beispiel historischer Unterschlagungen. Sie verschweigt die Vorgeschichte der Vertreibung völlig, ignoriert jede Verbindung zwischen Ursache und Wirkung und wird so zu einem Musterexemplar der Verdrängung und Verleugnung.
2. Im einzelnen. - Da wird gleich eingangs, hinter dem „Verzicht“, erinnert “...an das unendliche Leid, welches im besonderen das letzte Jahrzehnt über die Menschheit gebracht hat“. Schon hier wäre die Kehrung gegen den Nationalsozialismus und Hitlerdeutschland fällig, wären konkrete Namen zu erwarten gewesen. Sie kommt jedoch nicht, weder an dieser Stelle noch später. Es erscheinen weder Hitler noch seine Paladine, noch das nationale Kollektiv seiner verschworenen Anhängerschaft. Kein Wort über das ausgemordete Polen, kein Buchstabe über die unermeßlichen Opfer des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion, nicht der kleinste Hinweis, was die deutsche Besetzung für die Länder vor allem Osteuropas bedeutet hat.
Unerwähnt bleiben Auschwitz, Treblinka, Sobibor, Belschiza, Chelmno, die grausigen Schädelstätten des deutschen Verwaltungsmassakers; unerwähnt die Ausrottungsorgien der vier Einsatzgruppen und ihrer mobilen Todeskommandos, soweit die Ostfront reichte. Nichts über die wehrmachtorganisierten Massaker an sowjetischen Kriegsgefangenen, ihr Massensterben durch Hunger, Krankheiten und Exekutionen. Auch nichts über die Vernichtungspraktiken bei der sogenannten „Eindeutschung“ bis zum Bug, über die Ausrottungspläne weit darüber hinaus, hinter der gigantischen Abschottung eines „germanischen Ostwalls“. Nichts über die bürokratische Abstemplung des völlig rechtlosen polnischen Volkes in vier „Wertungsgruppen“, nichts über seine Inkriminierung als „Untermenschen“, über Vollzug und Absichten, riesige Gebiete „polen-“ und natürlich auch „judenfrei“ zu machen.
Die Charta der deutschen Heimatvertriebenen unterschlägt, daß es im deutsch besetzten Osteuropa zu Massenvertreibungen, ja zu wahren Völkerwanderungen unter den unsäglichsten Bedingungen gekommen war - all dies, bevor auch nur ein einziger Deutscher vertrieben worden wäre. Der Statthalter des „Generalgouvernements“, dieses größten Menschenschlachthauses der Geschichte, selbst gibt eine Schilderung, was deutsche Besatzung für die Polen bedeutete, als er am 19.Juni 1943 in einem Brief an Hitler „Mißstände“ der bisherigen „Polenpolitik“ auflistete - nicht aus humanitären Gründen, sondern um die Unterworfenen noch effektiver als bisher ausbeuten zu können: völlig unzureichende Ernährung - entschädigungslose Enteignungen und Aussiedlungen polnischer Bauern - rigorose Methoden der Arbeitererfassung - geschlossene Mittel- und Hochschulen lahmgelegtes Kulturleben - keine Beteiligung an der staatlichen Verwaltung.
Obwohl der später in Nürnberg hingerichtete Hans Frank den Völkermord an den Juden, der in vollem Gange war, nicht für erwähnenswert hielt, liest sich schon seine unvollkommene Aufzählung wie ein Kriminalkatalog der Ereignisse, die in Polen der Vertreibung der Deutschen vorangegangen waren und von denen nichts, gar nichts in der Charta steht.
Natürlich spart dieses „Vermächtnis der ersten Generation“ (Helmut Kohl) auch die Tatsache aus, daß es sich um einen deutschen Angriffskrieg gehandelt hat und daß er das größte aller Naziverbrechen war - denn erst die militärische Expansion schuf ja die Voraussetzungen für die alles in den Schatten stellende Vernichtungspraxis jenseits der deutschen Grenzen.
3. Die Charta der deutschen Heimatvertriebenen ist auch ein Dokument der bewußten Umschreibungen und Verschwommenheiten, etwa wenn es darin heißt: „Wir rufen Völker und Menschen auf, die guten Willens sind, Hand anzulegen ans Werk, damit aus Schuld, Unglück, Leid, Armut und Elend für uns alle eine bessere Zukunft gefunden wird.“
Wie human sich solche Sätze anhören! Tatsächlich aber hebt ihre Verschwommenheit die Grenzen zwischen Opfern und Tätern auf, werden die grundverschiedenen Ursachen für Schuld, Unglück, Leid und Armut von Angreifern und Angegriffenen, von Mördern und Gemordeten eingeebnet bis zur Unkenntlichkeit - ganz im Sinne jenes Versöhnungsschmuses, den Helmut Kohl neben dem US-Präsidenten Ronald Reagan zur vierzigjährigen Wiederkehr der deutschen Kapitulation am 8.Mai 1985 über den Wehrmacht- und SS-Gräbern von Bitburg zelebriert hat.
Peinlich vor der gänzlich unerwähnten Blutkulisse des deutsch besetzten Europas die blauäugige Berufung der Charta auf den „christlich-abendländischen Kulturkreis“, auf Volkstum und Religiöses; peinlich auch Formulierungen wie: „Gott hat die Menschen in ihre Heimat gestellt“, oder Wendungen falscher Poesie wie: „Heimatlose sind Fremdlinge auf dieser Erde“.
Verleugnung und Relativierung der Schuld
Man bedenke: Damals, 1950, im Erscheinungsjahr der Charta, lastete noch aus den Leichengruben spürbar der Verwesungsgeruch über dem erst wenige Jahre zuvor deutsch besetzten Europa, war die NS-Apokalypse noch nahe, ganz nahe. Aber ich suche in der Charta vergebens nach wirklicher Trauer, nach überzeugender Aufrichtigkeit. Statt dessen findet sich in nahezu jedem Wort das Bedürfnis nach Verdrängung, Verleugnung und Relativierung der deutschen Schuld (ganz im Stile der konservativen Auslöser des Historikerstreits fast vierzig Jahre später), findet sich Verschwommenheit. Dabei gibt es allerdings eine Ausnahme - bei der Selbstdarstellung des eigenen Schicksals: „Die Völker der Welt sollen ihre Mitverantwortung am Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen empfinden.“
Wer bestreitet, daß es furchtbar ist, seine Heimat zu verlieren? Niemand kann und wird das tun! Aber einmal ganz abgesehen davon, welche Mitverantwortung viele Heimatvertriebene am eigenen Schicksal durch ihre politische Haltung zu Nationalsozialismus und Hitler gehabt haben: Sind Heimatvertriebene tatsächlich schwerer betroffen als Menschen, die Auschwitz entkamen, aber dort ihre Familie im Gas gelassen haben? Oder als die Frau eines Widerstandskämpfers, die erfahren mußte, daß ihr Mann und der Vater ihrer Kinder mit dem Fallbeil hingerichtet oder zu Tode stranguliert worden war? Warum sollte das Los der Heimatvertriebenen schwerer gewesen sein als das exemplarische Schicksal von KZlern, deren Erinnerungshöllen um so plastischer werden, je mehr sie sich von der seinerzeitigen Erlebniswirklichkeit entfernen?
Die Charta der deutschen Heimatvertriebenen ist ein überzeugendes Dokument innerer Beziehungslosigkeit zur Welt der Naziopfer, der ebenso unaufhebbaren wie unverbergbaren Ferne zu ihrer Gefühls- und Leidensgeschichte. Es ist die andere Seite, die hier spricht, ohne jeden nazigegnerischen Tenor. Die einzig wirkliche Betroffenheit der Charta-Autoren konzentriert sich in der Beschwörung des eigenen Leids.
4. Von einer Vertriebenengruppe ist bezeichnenderweise in der Charta überhaupt nichts vermerkt, obwohl ihre Angehörigen die ersten vertriebenen Deutschen waren - von den Emigranten. Kein Wort von diesen wegen ihrer Nazigegnerschaft Zwangsvertriebenen der „ersten Stunde“ und der Jahre bis zum Kriegsausbruch. Sie standen - und stehen in der Bundesrepublik nicht sonderlich hoch im Kurs, diese Vertriebenen, die ohne ihre Flucht eingekerkert oder umgebracht worden wären, wie so viele, die nicht entkommen konnten. Die großmäuligen Gegner der Emigranten jedenfalls haben keinen von ihnen vor diesem Schicksal bewahrt...
Daß die Emigranten übersehen worden sind, kann ich nicht als Zufall bezeichnen. Alexander und Margarete Mitscherlich haben sich in ihrem Klassiker Die Unfähigkeit zu trauern auch damit befaßt, mit dieser ebenso überzeugenden wie niederschmetternden Bilanz des Durchschnittsdeutschen und seines Seelenhaushalts während der Nazizeit und in den ersten zwanzig Jahren danach. Unter der Überschrift Emigration als Makel heißt es darin: „Wir erkennen unsere Vergangenheit besser im Ritterkreuzträger als im deutschen Emigranten. Man trägt die Orden des 3. Reiches wieder, nachdem man das damalige Hoheitszeichen, das Hakenkreuz, daraus entfernt hat...“
Die Charta der deutschen Heimatvertriebenen hat das Hakenkreuz so gründlich aus ihrem Text herausgekratzt, daß von ihm keine Spur mehr nachgeblieben ist. Dieses „Zeugnis von historischer Bedeutung“ (noch einmal Kohl) ist ein Dokument bewußter Anonymisierung. Die Charta ist aber auch ein entlarvender Beweis deutscher Anmaßung, dies vor allem. Denn sie rückt die Opfernationen in die Position von Schuldnern, die Täternation jedoch in die eines großmütigen und verzeihenden Gläubigers: „Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung.“ Wem gegenüber denn? Den Polen, die die deutsche Besetzung ein Sechstel bis ein Fünftel ihres biologischen Bestandes gekostet hat? Oder den Völkern der Sowjetunion, in der es so gut wie keine Familie gab, die nicht durch Kriegshandlung und Mord betroffen war? Was ist das für ein jovial -unverschämter „Verzicht“?
Welche Antwort hätten denn die Verfasser der Charta auf die Forderung der überfallenen und dezimierten Völker: „Ihr Angreifer - gebt uns unsere Gefallenen, gebt uns unsere Ermordeten wieder!“ Land könnte immerhin zurückgegeben werden, ob nun historisch erfüllbar oder, wie in diesem Falle, nicht - Land ist jedenfalls da, es existiert weiter. Tote jedoch kehren bekanntlich nicht zurück. Sind Menschen weniger wert als Land?
„Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung“?
Tatsächlich, Herren Hupka, Waigel und Dregger? Verzichtet der Ungeist, der die historische Chronologie von deutscher Gewalt und Gegenreaktionen der Betroffenen so bedenkenlos verschiebt, wirklich darauf? Ist eine Mentalität frei von Rache und Vergeltung, die in unverhüllter Relativierung und Aufrechnung den Zeitgenossen von 1950 und einer weitgehend ignoranten Nachfolgegesellschaft suggerieren will, es sei Gleiches mit Gleichem vergolten worden? Hätte, angesichts der ungeheuerlichen Vorgeschichte der Vertreibung, Gleiches mit Gleichem zu vergelten nicht bedeuten müssen, daß kein einziger Deutscher aus polnischem und so wjetischem Gewahrsam entkommen wäre?
Haben die ewigen Relativierer und Nivellierer a la Hupka nie etwas gehört vom „Generalplan Ost“, dem Vernichtungs und Versklavungsprogramm der nationalsozialistischen Reichsführung für die Völker des besetzten Ostens nach dem „Endsieg“?
Darin wird mit deutscher Gründlichkeit genau aufgelistet, wie viele Millionen Slawen umgebracht, wie viele als Arbeitstiere befristet überleben und wie viele über den Ural gejagt werden sollten - der „andere“, der nichtjüdische Holocaust...
„Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung“?
Ich hegte - und hege immer noch - die größten Zweifel an der Aufrichtigkeit des Rache- und Vergeltunsverzichts derer, die der Charta der deutschen Heimatvertriebenen ihren Ungeist eingepflanzt haben. Diese Zweifel sind von niemandem heftiger provoziert worden als von eben jener Riege der Berufsvertriebenen, die seit nunmehr vierzig Jahren in ihren Sonntagsreden und ihren Publikationsorganen exakt die Lexikondeutung des Wortes Revanchismus personifizieren: „Politisches Schlagwort, bezeichnet eine nach Vergeltung strebende Außenpolitik“.
Wer, wie jetzt auf dem Schlesiertreffen in Hannover wieder Waigel, Hukpa, Wilms, erkärt, die „deutsche Frage sei offen“ auch im Sinne der bestehenden Grenzen in Osteuropa, wer das Deutsche Reich von 1937 gegen die von der Anti-Hitler -Koalition des Zweiten Weltkrieges blutig erkämpfte Staatenwirklichkeit fordert und wer damit von bundesdeutschen Regierungen abgeschlossene und geltende Verträge in Frage stellt, die inzwischen völkerrechtlichen Rang haben - wer das tut, wer so tönt, wer dergleichen fordert, der ist Revanchist! Wer die polnische Westgrenze als provisorisch bezeichnet, ist Revanchist! Wer die Überwindung der deutschen Teilung mit der Verschiebung der deutschen Grenze nach Osten verknüpft, ist Revanchist!
5. Und der immer wieder aus der Mottenkiste hervorgekramte Friedensvertrag? Was, um Himmels willen, vermöchte der denn anderes, als den Status quo der bestehenden europäischen Grenzen festzuschreiben? Und zwar mit dem offenen oder heimlichen Einverständnis der ganzen Welt, eingeschlossen zahlreiche Deutsche, denen der Gedanke unheimlich ist, daß sie auf die Lernfähigkeit ihrer Landsleute in einem wirtschaftlich und politisch überkolossalen 80-Millionen-Staat angewiesen wären... Was also wäre die Folge eines solchen Friedensvertrages? Daß die Waigel, Hupka, Zimmermann, Dregger und Schönhubers, diese ganze konservative, rechte, rechtsradikale und -extremistische Dreistigkeit solchen Vertrag zum bevorzugten Aggressionsobjekt ihres Revisionismus und Revanchismus machen würde, und sonst gar nichts! Wirkung auf
die Nachgeborenen
Der beharrliche Grenzrevisionismus mit seinem immanenten Revanchismus, von Teilen der elterlichen und großelterlichen Generationen geschürt, hat seine Wirkung auf die Nachgeborenen nicht verfehlt. Unvergessenes Beispiel: der 25jährige Thomas Finke, Angehöriger einer Bundeswehreinheit für psychologische Verteidigung, und sein am 25.Januar unter dem Titel Nachdenken über Deutschland in dem Vertriebenenorgan 'Der Schlesier‘ erschienener Artikel! In einer Horrorvision ließ er die Streitkräfte der Bundesrepublik quer durch das Gebiet der Warschauer Pakt -Staaten in Mittel- und Osteuropa marschieren, als unangefochtene Sieger und Befreier...
Die Auslassungen eines Tagträumers? Der hatte nur geschrieben, was andere vorgedacht hatten. Und die Ertappten? Nach dem Motto: „Haltet den Dieb!“ - Herbert Czaja: „Wahnwitzige Auslassungen eines unreifen Jungen.“ Herbert Hupka: „Ein verrückter und grausamer Zeitungsartikel.“ Dregger gar: „Ein vorgeschickter Agent des Kreml.“ Thomas Finke verschwand damals rasch vom Fenster, er wurde fallengelassen „wie eine heiße Kartoffel“ ('Süddeutsche Zeitung‘). Das gleiche galt für Franz-Josef Strauß: „Die deutsche Frage ist nach wie vor offen. Das Deutsche Reich besteht also rechtlich in den Grenzen von 1937 fort.“ Alois Mertes, Staatsminister im Auswärtigen Amt: „Die deutsche Frage bleibt so lange offen, wie die europäische offen ist.“ Philipp von Bismarck, Sprecher der Pommerschen Landsmannschaft: „Wie soll Pommern die Freiheit wiedererlangen, wenn nicht Europa bis zum Schwarzen Meer geht?“
Wie anfällig sind die Deutschen von heute?
Die gleiche Sprache in Hannover auf dem Schlesiertreffen, wo auch Franz Schönhubers Bekenntnis zur Waffen-SS Ich war dabei gleich stapelweise auslag (neben zahlreichen anderen neonazistischen Werken wie Präventivschlag 1941 - Zur Vorgeschiche des Rußlandfeldzuges; Fahnenflucht als politische Weltanschauung - Zum Fall Richard Freiherr von Weizsäcker; oder Hitler - Selbstverständnis eines Revolutionärs).
Das Reich in den Grenzen von 1937? Wie anfällig sind die Deutschen von heute für die Irrationalismen wahnwitziger Erlösungsapostel? Und wieviel von den realitätsfremden Forderungen eines Herbert Hupka geht ein in die Vorstellungen seiner Zuhörer von 1989?
Es war Willy Brandt, der den Komplex auf den Punkt gebracht hat: „Wir konnten nichts verlieren und haben nichts verloren, was Hitler nicht schon verspielt hatte.“
Genau das bestreitet die Charta der deutschen Heimatvertriebenen. Ihr Ungeist ist die Wurzel des übels, sie ist der Kodex des deutschen Revisionismus/Revanchismus mit ihren beiden Menetekeln: Unbelehrbarkeit und Unbußfertigkeit.
Wir sind gewarnt - seit über vierzig Jahren.
Ralph Giordano
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