: Verstümmelungen
■ Der Autor arbeitet seit 1981 als Kustos für Nord- und Westafrika am British Museum in London. Der folgende Beitrag ist seinem demnächst bei Klett-Cotta erscheinenden Band „Die Raupenplage“ entnommen.
Nigel Barley
Der Augenblick schien günstig, das Gespräch auf die Beschneidung zu bringen. Zuuldibo nickte. Jawohl, die Zeremonie sollte drüben in der Gegend stattfinden, wo das Dorf des alten Regenhäuptlings lag. Die Jungen hatten sich bereits mit Tierhörnern und -häuten geschmückt und angefangen herumzuziehen, um in den Anwesen ihrer Verwandten zu tanzen. Dies war endlich ein klares und eindeutiges Zeichen, daß man vorhatte, das Ritual zu vollziehen. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Es schien also wirklich, als sollte ich bald Arbeit bekommen.
Bei den Dowayos ist die Beschneidung ein sich lang hinziehender Vorgang. Wie in vielen anderen Gegenden der Welt gilt der Beschnittene als ein Wiedergeborener, dem wie einem Kleinkind alle kulturellen Fertigkeiten neu beigebracht werden müssen. Als erstes werden die Jungen von den Männern ihrer Schwestern geschmückt. Sie streifen dann tanzend durchs Land und werden überall in den Gehöften mit Essen versorgt. Sobald die ersten schweren Regengüsse fallen, können die Jungen beschnitten werden. Die Operation ist darauf angelegt, Furcht und Schrecken zu erregen. Die Jungen werden an einer rituellen Kreuzung bis auf die Haut ausgezogen und zum Wäldchen am Fluß geführt, wo die Beschneidung stattfindet. Unterwegs werden sie von den Beschneidern angesprungen, die wie jagende Leoparden knurren und sie mit dem Messer bedrohen. Die Operation ist sehr schmerzhaft, da der Penis fast in voller Länge abgeschält wird. Unter Umständen sind es mehrere verschiedene Beschneider, die jeder ein Stück von der Vorhaut abschneiden. Der Junge darf nicht schreien, aber die alten Männer, die mir von dem festlichen Ereignis erzählten, gaben zu, daß viele es doch täten. Das sei auch nicht schlimm, solange die Frauen glaubten, sie hätten sich tapfer gehalten. Beim Badeplatz kann man die Ergebnisse derartiger Eingriffe studieren. Wenn der Operierte noch sehr jung ist, nimmt das Glied manchmal eine fast kugelförmige Form an, was mitverantwortlich für die sehr niedrige Geburtenrate bei den Dowayos sein dürfte. Da alle mit demselben Messer beschnitten werden und die Infektionsgefahr entsprechend groß ist, ist die Todesrate beträchtlich. Von Jungen, die infolge der Operation starben, hieß es, Leoparden häten sie gefressen. Aus der Korrespondenz französischer Kolonialoffiziere geht hervor, wie bekümmert diese über die große Zahl Jugendlicher waren, die angeblich der Leopard gefressen hatte - obwohl doch Leoparden in der Gegend praktisch ausgestorben waren. Auf diese Weise gerieten die Dowayos rasch in den Verdacht, blutrünstigen kannibalistischen Ritualen zu frönen.
Nach der Beschneidung müssen die Jungen etwa neun Monate lang - ebensoviel Zeit, wie sie im Mutterschoß verbracht haben - abgeschieden im Busch leben. Sie müssen den Frauen aus dem Weg gehen. Erst gegen Ende dieser Zeit dürfen sie unter blätterbedeckten Korbgeflechten herumlaufen, wie ich eines gesehen hatte. Sogar da noch sind die verpflichtet, „Brücken“ aus Laub auszulegen, wenn sie einen Pfad überqueren wollen, und danach die verunreinigten Zweige wieder wegzunehmen. Frisch beschnittene Jungen sind nämlich sehr gefährlich. Sie können bei einer schwangeren Frau eine Fehlgeburt hervorrufen und eine jungverheiratete Frau unfruchtbar werden lassen. Sie dürfen nicht direkt mit einer Frau sprechen, sondern haben kleine Flöten, mit denen sie die Tonmuster von Wörtern nachahmen, so daß sie mittels Musik „sprechen“ können.
Erst nach diesem neunmonatigen Zeitraum dürfen sie in das Dorf zurückkehren, wo man ihnen zu essen gibt, sie neu einkleidet und ihnen die Herdstellen zeigt. Später führt man sie zu dem Haus, wo die Schädel der männlichen Vorfahren aufbewahrt werden, die sie zum ersten Mal sehen dürfen. Sie sind jetzt echte Männer und dürfen einen Eid auf ihr Messer schwören. (Kinder, die das machen, kriegen Prügel.) Es war immer merkwürdig zu hören, wenn Männer zum Zeichen großen Zorns eine Kurzversion des Schwurs hervorstießen. Es klingt wie „Verdammich!“ Wann immer ich den Schwur in den Mund nahm, erregte ich damit große Heiterkeit.
Man fragt sich vielleicht, warum die Sitte der Beschneidung so weltweit verbreitet ist und warum die Ethnologen so augenscheinlich fasziniert von ihr sind. Man könnte meinen, daß die Verstümmelung der Genitalien etwas so Schmerzhaftes und Unangenehmes ist, daß die Menschen eher auf alles andere als darauf verfallen müßten. Was man über die gängigen Methoden, die Geschlechtsorgane zu verunstalten, liest, zwingt einen förmlich zu der Annahme, daß die Verstümmelungen vorgenommen werden, weil sie schmerzhaft sind. Manchmal werden Löcher in den Penis gebohrt. Oder er wird über und über mit einem Glassplitter zerfetzt, um ihn zu reinigen. Oder er wird aufgeschlitzt, so daß er sich im erigierten Zustand wie ein Blüte öffnet. Hoden können zerquetscht oder abgehackt werden. Keine Möglichkeit scheint ausgelassen.
Wenn die Ethnologen von solchen Praktiken immer wieder fasziniert sind, so deshalb, weil sie darin einen Ausdruck der unvermischten „Andersartigkeit“ fremder Völker gewahren. Lassen sich Praktiken dieser Art „erklären“ und in Zusammenhang mit unserer eigenen Lebensweise bringen, so ist die „Andersartigkeit“ aufgehoben, und wir haben das Gefühl, zu einem allgemeinen Begriff von dem, was Menschheit bedeutet, durchdrungen zu sein. Man gewinnt den Eindruck, daß, falls es den ethnologischen Theorien gelingt, mit den Sexualbräuchen fertigzuwerden, es nichts gibt, womit sie nicht fertigwerden könnten.
Eine gängige „Erklärung“ für die weitverbreitete Sitte, die Vorhaut zu entfernen, geht davon aus, daß diese als ein irgendwie weiblicher Bestandteil angesehen wird, der bei echten Männern nichts zu suchen hat.
Auf Ähnliches ist man verfallen, um die Begeisterung zu erklären, mit der manche Kulturen die weibliche Klitoris entfernen - diese werde als Restpenis angesehen, der bei Frauen nichts zu suchen habe. Die Kultur würde demnach gebraucht, um die Mängel einer unvollkommenen Natur auszubügeln.
Meine eigenen Nachforschungen bei den Dowayos ergaben, daß diese, ungeachtet der zentralen Rolle, die in ihrer Kultur die männliche Beschneidung spielt, ohne weiteres bereit waren, mehrere solche Lesarten gleichzeitig gelten zu lassen. Fest steht, daß sie die Beschneidung als männliches Gegenstück zur Menstruation betrachteten. Ein Mann ist sein ganzes Leben lang verpflichtet, auf vertrautem Fuß mit denen zu verkehren, mit denen zusammen er beschnitten wurde seinen „Brüdern der Beschneidung“ -, während eine Frau freundschaftlichen Umgang mit denen pflegen muß, die im gleichen Jahr wie sie zum ersten Mal die Monatsregel bekamen, - ihren „Schwestern der Menstruation“.
Andererseits gilt den Dowayos die Vorhaut eindeutig als in gewissem Sinne etwas Weibliches, denn sie klagen, unbeschnittene Jungen seien feucht und übelriechend „wie Frauen“. Die Dowayos haben für umständliche Erklärungen ihrer Bräuche nicht viel übrig. Normalerweise beschränken sie sich auf die Erklärung, sie täten etwas Bestimmtes, „weil unsere Vorfahren es uns geheißen haben“. Aber hier, in diesem Fall, waren sie mit einer Begründung zur Hand, die interessanterweise derjenigen der dort ansässigen amerikanischen Missionare entsprach, die ihre kleinen Jungen ebenfalls beschnitten und in aller Unschuld erklärten, sie täten das, weil es deren Gesundheit und Wohlergehen nutze, da wissenschaftlich erwiesen sei, daß die Vorhaut einen Infektionsherd und eine Quelle von Verunreinigungen bilde. Dowayos und Amerikaner waren also gleichermaßen überzeugt davon, daß eine Verstümmelung der Geschlechtsorgane ihrer Jungen nötig sei. Allerdings mißbilligten die Dowayos, wie die Amerikaner dabei vorgingen - erstens war es nicht der Rede wert, was sie von den Kindern abschnitten, und zweitens hielten sie diese unmittelbar nach der Beschneidung nicht von den Frauen fern und ließen sie so zu einer Gefahr für die öffentliche Gesundheit werden.
Aber wenn die Beschneidung bloß als eine von mehreren möglichen Methoden gilt, um Mißgriffe der Biologie auszubügeln, dann wäre da auch noch anderes denkbar. Die Möglichkeit der Beschneidung bei Mädchen habe ich bereits erwähnt. Darum wird heute in der Öffentlichkeit viel Aufhebens gemacht, weil es als Teil einer männlichen Verschwörung zur Unterdrückung und Versklavung der Frauen präsentiert und dementsprechend heiß diskutiert wird. Über die viel häufigere Verstümmelung bei den Männern verliert niemand ein Wort.
Nun werden bei den Dowayos die Geschlechtsorgane der Frauen aber nicht verstümmelt. Tatsache ist allerdings, daß ich am Ende meines zweiten Besuchs eine bizarre Abordnung von alten Männern empfing, die von solch einer Praktik gehört hatten und mich baten, sie ihnen zu erläutern. Einmal mehr wirft dies Probleme der Ethik auf. Ist der Ethnograph berechtigt, über Praktiken Auskunft zu erteilen, die bei vielen Menschen Abscheu erregen? Aber sich in dieser Hinsicht Beschränkungen aufzuerlegen, würde für die Ethnologie bedeuten, daß sie zu großen Teilen überhaupt nicht mehr diskutabel wäre, weil die Mehrzahl ihrer Themen anstoßerregend und nicht salonfähig sind.
Wir zogen uns mit viel Geflüster und Gekicher in den Busch zurück. Dort bemühte ich mich, einer faszinierenden, aber skeptischen Zuhörerschaft mit Hilfe von Illustrationen zu erläutern, inwiefern so etwas prinzipiell möglich war. Sie schüttelten den Kopf und wiesen voll Verblüffung darüber, zu welchen Perversionen andere Völker imstande waren, auf die Skizzen im Staub. „Aber tut das denn nicht weh?“ fragten sie, so als hätten sie keine Ahnung von den Qualen, die sie mit ihren eigenen Praktiken den Jungen bereiteten. „Hält es Frauen wirklich davon ab, sich herumzutreiben und Ehebruch zu begehen?“ In solchen Situationen bleibt einem wenig anderes übrig, als mit den Schultern zu zucken und Zuflucht zu einer stereotypen Wendung zu nehmen wie etwa: „Ich weiß nicht. Ich bin darüber nicht im Bild.“
So stellte denn für die Dowayos die Verstümmelung von Frauen mindestens theoretisch eine Möglichkeit dar. Bleibt indes eine offene Frage. Bei Frauen erfüllen die Brüste eine Fuktion und sind nötig, um die Kleinkinder zu säugen. Nicht so bei Männern. Warum erklären also die Männer nicht lieber ihre Brustwarzen zu einem störenden weiblichen Element und schneiden sie ab, statt ihre Vorhaut zu entfernen? Mir ist kein einziges Beispiel für solch eine Praktik bekannt. Man stelle sich daher meine Aufregung vor, als Matthieu beiläufig die Bemerkung machte, die Ninga - ein Volk in der Nachbarschaft - wären insofern merkwürdig, als ihre Männer keine Brustwarzen hätten. Ich bemühte mich um eine Bestätigung für diese Behauptung, indem ich andere Dowayos danach fragte. Es erforderte einige Anstrengung, um die Unterhaltung auf diesen Punkt zu bringen, aber dann erklärten sie, daß es sich in der Tat so verhalte. Eine Expedition mit dem Ziel, die Existenz der gesuchten Brustwarzen-Amputation nachzuweisen, war offenbar fällig.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen