Railroad-Streik vor der Endstation?

Britische Eisenbahnergewerkschaft verlängert Ausstand um eine Woche / Front bröckelt / Heute Entscheidung über Annahme des British-Rail-Angebots / Eisenbahner als Inflationslokomotive?  ■  Von Ralf Sotscheck

Gestern standen die Züge in Großbritannien wieder still. Die größte britische Eisenbahnergewerkschaft, die „National Union of Railwaymen“ (NUR), hatte beschlossen, den seit sechs Wochen andauernden Streik, durch den einmal pro Woche der Zugverkehr lahmgelegt wird, zumindest in dieser Woche fortzusetzen.

Vor elf Tagen hatte die NUR mit knapper Mehrheit das Angebot einer Lohnerhöhung von 8,8 Prozent abgelehnt, obwohl zwei kleinere Gewerkschaften die Offerte akzeptiert hatten. Da auch die Angestellten der Londoner U-Bahn ihren separaten Streik auf den gestrigen Mittwoch gelegt hatten, kam es in London zu einem Verkehrschaos, und viele Banker schwangen sich löblicherweise aufs Fahrrad, um in die City zu fahren.

Die Eisenbahner streiken nicht nur für höheren Lohn, sondern auch für das Recht der Gewerkschaften, nationale Tarifverhandlungen zu führen. Die Eisenbahngesellschaft British Rail will die Arbeiter und Angestellten ab Januar in fünf verschiedene Gruppen gliedern und danach nur noch getrennt über die Tarife verhandeln. Damit soll die Privatisierung von British Rail vorbereitet werden.

NUR-Chef Jimmy Knapp enthüllte am Dienstag, daß das Management von British Rail bereits Anfang Juli in einem geheimgehaltenen Brief den lokalen Eisenbahnverwaltungen vorgeschlagen hat, individuelle Lohnabsprachen und Schichtdienstvereinbarungen zu treffen. British Rail behauptet dagegen, daß der Brief nur dazu gedient habe, sich ein Meinungsbild zu den Vorschlägen zu machen. Die NUR -Führung tritt heute zusammen, um über eine Fortsetzung des Streiks zu beraten.

Obwohl der Streikaufruf auch gestern von der überwiegenden Mehrheit der Eisenbahner befolgt wurde, beginnt die Front zu bröckeln. Knapp gab zu, daß verschiedene Bezirksverbände verlangt hatten, den Streik abzubrechen. Sie fürchten, daß die Streikenden die Sympathien der Bevölkerung verlieren könnten, nachdem British Rail das Angebot von sieben Prozent erhöht und die Dezentralisierung der Tarifverhandlungen verschoben hat.

Umfragen haben jedoch ergeben, daß nur 20 Prozent der Bahnkunden den Gewerkschaften die Schuld für den Streik geben. Die Mehrheit glaubt, daß British Rail und die britische Regierung aufgrund falscher Investitionspolitik und unaufrichtiger Verhandlungsführung für den Streik verantwortlich sind. Diese Meinung teilen viele Hinterbänkler der Tories. Transportminister Paul Channon mußte am Montag die Folgen tragen. Er verlor bei der Kabinettsumbildung seinen Job.

Selbst wenn die NUR heute ihren Streik abbricht und das Angebot von British Rail annimmt, könnten die dann erstreikten Lohnerhöhungen anderen Gewerkschaften als Richtlinie dienen. Dadurch wäre Thatchers Strategie der Inflationsbekämpfung auf Kosten der Gewerkschaften ernsthaft gefährdet.