DIE ANIMALITÄT DES BÄCKERSSOHNES

■ Der Tenor aller Tenöre, Luciano Pavarotti, in der Waldbühne

Die Vorgruppe, das Symphonische Orchester Berlin, hat die Ouvertüre zu Donizettis „Don Pasquale“, beendet, es herrscht Stille im tiefen Tal der Waldbühne. Dann braust Applaus auf, der Blick schweift hinunter zu den Brettern, die die Welt bedeuten, und es stellt sich eine bange Frage: Wer hat bloß diese merkwürdige Kugel auf die Bühne gerollt?

Doch, siehe da, plötzlich öffnet das unheimliche Gebilde den Mund und hebt an, gar wunderbar zu singen. Die Kugel ist Luciano Pavarotti, der Maradona des Stimmbandes, der einzige Künstler, der die riesige Waldbühne nicht nur füllen, sondern auch von überall deutlich gesehen werden kann.

Seit der Bäckerssohn aus Modena in jungen Jahren begonnen hatte, die hohen Cs - von Rossini verglichen mit dem „Kreischen eines Kapauns, dem gerade die Kehle durchgeschnitten wird“ - schneller hervorzusprudeln als andere Leute „Guten Morgen“ sagen können, sorgte seine immense Leibesfülle für Gesprächsstoff. „Wir hatten dieselbe Amme“, erläutert die ebenfalls aus Modena stammende Sopranistin Mirella Freni, „man kann sehen, wer mehr Milch bekommen hat.“ In eine ähnliche Kerbe haut der Meister selbst: „Ich könnte alle möglichen Geschichten darüber erzählen, daß ich wegen meiner Drüsen so dick bin. Aber da würde ich lügen. Es ist das Essen!“

Der betuchtere Teil des Publikums paßte sich den Vorlieben seines Primodonno begeistert an. 750 Mark kostete ein Platz im VIP-Bereich direkt vor der Bühne, im Preis inbegriffen ein kleines Bastkörblein, daß für ein gelungenes Konzerterlebnis so unverzichtbare Utensilien wie Kräcker, Gänseleberpastete, Wurscht, Rotwein und Magenbitter enthielt. Bevor sich die Auserwählten aber über ihre Vorräte hermachen konnten, mußten sie erst ein langes Spießrutenlaufen absolvieren durch das gemeine Volk auf den billigen Plätzen (zwischen 40 und 200 Mark), das in boshaftes Johlen und Pfeifen ausbrach, wenn besonders schaurig gekleidete Exemplare der Spezies VIP vorbeidefilierten. Der Gegenschlag folgte auf dem Fuße: dichte Schwaden von Chanel und Poison, gegen die keine Bratwurstbude mehr eine Chance hatte.

Der in vielen großen Konzerten gestählte Pavarotti steckte selbst das weg, auch wenn er die Bühne nach eigenem Bekunden keineswegs kaltblütig betritt: „Wenn ich hohe Töne singe, fühle ich mich wie ein Springer vor einer über zwei Meter hohen Latte. Ich bin aufs äußerste angespannt, aufgeregt und glücklich, aber immer ist da eine starke Unterströmung von Angst. In dem Augenblick, in dem ich den Ton treffe, verliere ich fast das Bewußtsein. Ein körperliches, animalisches Gefühl ergreift mich da.“ Für Spannung war also gesorgt. Würde Luciano der Große etwa schon inmitten seiner Eröffnungsarie „Una aura amorosa“ aus Mozarts „Cosi fan tutte“ entseelt zu Boden sinken oder würde spätestens bei den akrobatischen „passaggios“ von „Fra poco a me ricovero“ aus Donizettis „Lucia di Lammermoor“ seine geballte Animalität mit ihm durchgehen?

Nichts von alledem. Pavarotti beschränkt sich darauf, mit seiner vor Musikalität berstenden Stimme, die der sanften Umarmung ebenso mächtig ist wie zupackender Aggressivität, das Publikum in progressive Euphorie zu versetzen. Richtig zur Geltung kommt er allerdings erst nach der Pause, als Dunkelheit hereinbricht, Wunderkerzen im Auditorium züngeln und ein fetter Scheinwerfer seinen opulenten Körper ins rechte Licht rückt. Auch wenn er oft als schlechter Darsteller gerügt wird, was er mit dem Hinweis zu kontern pflegt, daß man als Operntenor schließlich kein Laurence Olivier sein müsse, die Darstellung seiner selbst beherrscht er aufs vollkommenste.

Kaum ist der letzte Ton seiner Kehle entronnen, legt er das Heldenhaupt nach hinten, schließt genüßlich die Augen, spreizt mit der Grazie eines südamerikanischen Kondors die Arme und lächelt so süß, als stehe vor ihm eine besonders große Portion „Saltimbocca a la sparafucile“. Wie ein überdimensionaler Louis Armstrong läßt er sein weißes Tüchlein von der linken Hand herabbaumeln, führt es dann anmutig zur heftig transpirierenden Stirn, legt schließlich die Hände danksagend vor dem Gesicht zusammen, bis der Beifall verebbt und er sich mit leicht wippenden und schwer zerknitterten Frackschößen zurückzieht, um sich von seinen Strapazen zu erholen und das Orchester auch mal wieder zum Zuge kommen zu lassen.

Den Schluß der zweiten Konzerthälfte bilden drei neapolitanische Lieder, darunter das berühmte „Mamma“, in Deutschland bis in alle Ewigkeit diskreditiert durch den unsichtbar über ihm schwebenden Geist eines gewissen Heintje, und „La mia canzone al vento“, eine Art „Blowin‘ in the Wind“ für Caprifischer.

Den zehn Stücken, aus denen das Programm besteht, folgen stolze fünf Zugaben, die das enthusiastische Publikum durch nicht nachlassendes Klatschen, Toben, Trampeln und Delirieren erstreitet. Seinen Hit „Volare“ bringt Pavarotti nicht, wahrscheinlich aus feministischen Gründen, dafür singt er gleich zweimal „O Sole mio“. Selbige kann er nun einen Monat lang genießen, wenn er sich zum jährlichen Urlaub in den Kreis seiner Familie nach Italien zurückzieht. Wir wünschen guten Appetit.

Matti Lieske